Tallinn, Lasnamäe, Alex’ Wohnung
"Viel ist passiert in der Zwischenzeit! Heute hatte ich mehr oder minder meinen ersten halben Arbeitstag. Aber fangen wir von vorne an: Der Trip durchs Baltikum mit Paola, Nele, Kaori und Hiromi. Unsere erste Station war Riga. "
Viel ist passiert in der Zwischenzeit! Heute hatte ich mehr oder minder meinen ersten halben Arbeitstag.
Aber fangen wir von vorne an: Der Trip durchs Baltikum mit Paola, Nele, Kaori und Hiromi. Unsere erste Station war Riga. Wunderbare Altstadt. Schöne Jugendstil-Architektur. DIE baltische Metropole. So stand es zumindest im Reiseführer, im Rough Guide, im Lonely Planet, und in all den anderen, die während der fünfstündigen Busfahrt von Tallinn aus von uns verschlungen wurden.
Schon nach dem Passieren der Grenze (Passkontrolle, wie ungewohnt) fiel auf: Lettland ist viel osteuropäischer als Estland! Hier gibt es auch noch viel weniger Einheimische (also Letten) als Esten in Estland: knapp 45 Prozent der Einwohner Lettlands sind Nicht-Letten, verglichen mit 30 Prozent Nicht-Esten in Estland. Der Großteil dieser ausländischen Inländer sind Russen, wobei in den Statistiken noch mal extra zwischen Russen, Weißrussen und Ukrainern unterteilt wird, die von uns gerne in einen Topf geworfen werden.
Daher hört man auf den Straßen auch extrem viel Russisch, fast mehr als Lettisch beziehungsweise Estnisch, weil in den Hauptstädten der prozentuale Anteil der russischen Bevölkerung noch einmal höher als im Landesdurchschnitt ist. Deswegen sind auch die Einbürgerungs- und Staatsbürgerschaftsgesetze sehr, sehr streng: Um beispielsweise lettischer Staatsbürger zu sein, muss man entweder noch in der ersten lettischen Republik geboren oder ein direkter Nachkomme solch einer Person sein, oder aber einen recht schwierigen Test bestehen, der lettische Sprachkompetenz sowie Kenntnis der Verfassung und Geschichte Lettlands nachweist. Dieser Mix ist aber auch äußerst interessant und es ist bisher ein witziges Spiel gewesen, zu erraten, ob Passanten nun estnisch oder doch russisch waren. Oft kann man dies an Gesichtsform, Haarfarbe, Verhalten, Stil, und natürlich auch an der Sprache erkennen.
Gegen 18.00 Uhr in Riga angekommen haben wir uns erst einmal auf die Suche nach einem Hostel begeben und recht schnell auch eins gefunden. Die Letten sind ein altes Volk von Händlern, das merkt man, denn wir konnten den Preis pro Nacht und Person in unserem „Profitcamp“-Hostel, das übrigens direkt neben einem „Naktsklubs“ mit Striptease-Show liegt (davon bekamen wir allerdings nichts mit), von 13 auf zehn Lats drücken (1 lettischer Lats ~ 1,4 Euro).
Mit einem Quartier mitten in der Altstadt machten wir uns auf, diese zu erkunden, und die Reiseführer hatten recht: Wunderbar! Allerdings ist sie ganz anders als die mittelalterliche Festung (Vanalinn) in Tallinn: Riga ist viel größer, verruchter, kommerzieller, weniger maritim und ganz einfach großstädtischer als mein Tallinn, das so klein und süß, pur und klar direkt an der See liegt. Mit Tallinn assoziiere ich blau und grün, vielleicht ein helles Grau; Riga ist dunkelgrau, braun und rot.
Aber es gibt eine Menge zu sehen, wir waren im Occupation Museum (sehr gut gemacht und multilingual), in zwei Konzerten (ein Orgelkonzert im Dom, der die viertgrößte Orgel der Welt beherbergt; ein Chorkonzert in der Johanneskirche), in Jurmäla (em kilometerlangen Strand vor den Toren der Stadt), in der Neustadt mit den Jugendstilbauten und in Rundale Palace im Süden des Landes, ein Prachtstück.
Wir haben auch ein paar nette Leute kennen gelernt, darunter einen Franzosen, der in unserem Hostel schlief, mit dem ich den letzten Abend verbrachte, nachdem Kaori und Hiromi zurück nach Tallinn beziehungsweise Helsinki, Nele zurück nach Belgien (ach, war das traurig) und Paola schon einen Tag früher nach Vilnius gefahren war.
Erst haben wir in einer lettischen Großcafeteria diniert, in den Gassen stießen wir auf zwei Cellisten, die bei Kerzenschein bekannte Melodien neu interpretierten (ich habe eine halbe Stunde mit offenem Mund gestaunt), danach waren wir noch am Domplatz und haben ein paar lettische Biersorten ausprobiert, so dass wir auch erst um 4.00 Uhr zu Hause waren. Und ich wollte doch am nächsten Morgen früh den Bus nach Vilnius nehmen.
Ich entschied mich anders und fuhr nachmittags, so dass ich um 18.00 Uhr am Busbahnhof in Vilnius ankam, wo ich von Paola in Empfang genommen wurde. Vilnius war nicht so mein Fall, obwohl die Altstadt nett war, und sogar UNESCO-Weltkulturerbe ist, aber sie ist mir zu barock und ein kleines bisschen „overloaded“.
Das Hostel, das Youth Tourist Centre Vilnius, auf dem Uzupio-Hügel, der sich „unabhängige Republik“ nennt, und mit Montmartre verwandt ist (viele Künstler, aber viel weniger Touristen als in Paris), wurde witzigerweise von einem Seminar von Ex-EVSlern aus Estland, Litauen, Spanien, Deutschland, Rumänien und Polen belegt (Motto: Ex-EVS: Let’s do more!). Wir nahmen an einer Fiesta Espanola teil und durften rumänische Nationalgerichte und estnischen Vodka testen. Nicht schlecht, außer dass das rumänische Nationalgericht wie ungewürzte Polenta geschmeckt hat (*würg*).
Einen Tagesauflug nach Trakai (Schloß und Burg im Wasser) und Kaunas (zweitgrößte Stadt in Litauen) später ging es dann am Samstagabend um 22.00 Uhr mit dem Bus zurück nach Tallinn, wo wir total übermüdet um 8.00 Uhr morgens ankamen. Die Sitze im Bus waren nicht sehr bequem, außerdem wurden wir zweimal an den Grenzen geweckt - grässlich! Den Rest des Tages hieß es dann schlafen, und witzigerweise war Pierre, ein AFS-Bekannter, der im gleichen Jahr in Portugal war, in dem ich in Frankreich war. Und noch dazu ist er Halbfranzose. Er war mit der Fähre in Tallinn angekommen, nachdem er vorher in Finnland war. Paola und ich verbrachten also den Nachmittag und Abend mit ihm zusammen, und schliefen in unserer Schule, die von nun an komplett ausgeräumt wurde: Die Schlafräume, die wir noch während des Language Camps benutzt hatten, wurden wieder zu Klassenräumen umfunktioniert. Den Abend verbrachten wir mit Kochen in der Küche, in der der Großteil des Lichtes ausgefallen war (Kerzen tun’s ja auch), Musik hören, Johannisbeer-Wein und Saku trinken (DAS estnische Bier) und um 1.00 Uhr todmüde ins Bett fallen.
Am nächsten Morgen (Montag) war wieder früh aufstehen angesagt, denn ich wollte Pierre zum Hafen bringen und siehe da: SONNE! Ich traute meinen Augen nicht! Denn obwohl wir während der gesamten Reise gutes Wetter hatten, war vorher das Camp in Estland doch eher regnerisch. Auch am Sonntag, als ich Pierre am Raekoja Plats (Rathausplatz) einsammeln wollte, goss es natürlich wie aus Eimern. Die nächste Investition in Tallinn wird hundertprozentig ein Regenschirm. Ab zum Hafen also, Pierre auf den Finnjet nach Rostock schicken, einkaufen, durch die Stadt schlendern, im Internet surfen, und mich schon einmal darauf vorbereiten, wie es sein wird, wieder von vorne anzufangen, bei Null.
Paola würde am nächsten Tag zurück nach Italien fliegen, heute unternahm sie einem Ausflug nach Tartu. Wir feierten also unseren letzten Abend zusammen: Erst kochen, dann ab in die Altstadt und ordentlich 'Auf Wiedersehen' sagen. Wo? Bei Tristan & Isolde, dem urigen Café, mit dem besten Kakao und den leckersten Kuchen und Pralinés der gesamten Stadt. Wir wurden irgendwann um kurz nach Mitternacht rausgeschmissen, denn wir waren die letzten Gäste. Am nächsten Morgen begleitete ich Paola dann noch zum Flughafen, umarmte sie ein letztes Mal, und fort war sie.
Ich war allein.
Jetzt sollte also das lange Jahr beginnen. Ohne Familie. Ohne Freunde, denn die waren jetzt wieder zu Hause. Ich fuhr zurück in die Stadt, die Sonne strahlte immer noch, und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Im Internet surfen? Eine Ablenkung ist das zumindest. Zwei Stunden bis die Batterien des Laptops aufgebraucht sind. Und dann? Versuchen, eine Zeitung zu finden, Hauptsache lesbar, egal ob Englisch oder Deutsch. In Vilnius war das nicht zu machen, keine westeuropäische Zeitung zu finden. Doch Tallinn ist da mondäner. Gut, mit dem Spiegel und der International Herald Tribune (edited in HongKong and Paris, printed in Sweden) in der Tasche einkaufen: Salat, Hähnchenbrustfilet, Toast, Tortellini, Kekse, Apfelsaft… irgendwie muss ich ja jetzt die nächsten Tage allein überstehen.
Doch alles war fremd: Estnische Unwörter überall, Russisch-sprechende Kassiererinnen, Dunkelheit schon um 21.00 Uhr, und das Schlimmste: Ein paar riesige Zimmer in der Schule für mich, in denen niemand auf mich wartet. So gestalteten sich die nächsten zwei Abende mit Harry Potter Teil 6 auf Englisch zu Ende lesen (jetzt, wo ich fertig bin, kann ich den nächsten gar nicht erwarten), Spiegel und Focus (einen Tag später erworben) 20 mal durchblättern, Kochen und Spazierengehen, weil diese Leere und Stille einfach nicht zu ertragen ist. Wann wird bloß endlich meine Wohnung fertig? Das dauert nun schon eine Ewigkeit.
Doch dann, Mittwochabend: Die Erlösung. Eigentlich war ich nachmittags mit Valentina in der Schule verabredet, um alles Weitere zu besprechen, über meine Arbeit, den Conversation Club, den Sprachkurs und Anderes. Doch da am 1. September hier die Schule anfängt, war im „Office“ die Hölle los, und ich beschloss, lieber ein andermal wiederzukommen. Als ich abends um 20.30 Uhr nochmal reinschaute, rief Valentina mir schon zu: „Don’t leave, Jan, you’ll move tonight!“. Sollte es soweit sein? Wirklich? Ich packte also geschwind alle meine Sachen zusammen, die in der halben Schule verstreut lagen, und wartete darauf, abgeholt zu worden.
Wurde ich auch, von Alex, meinem „Mentor“. Doch nicht in meine Wohnung, sondern in seine. Denn meine ist noch immer nicht fertig, und wird es wohl vor Dienstag nichts. Heute ist Donnerstag. Also noch ein paar Tage in einem Zimmer, das nicht mein eigenes ist, und ich so immer noch aus dem Koffer leben muss. Alex’ Wohnung ist in einem Riesenplattenbau, draußen auf dem Lasnamäe-Hügel.
Es ist komfortabler, als es von außen scheint. Er wohnt mit Sveta, einer ehemaligen Studienfreundin zusammen. Ich schlafe in seinem Zimmer, er auf dem Sofa im Flur. Andersrum wollte er nicht. Russische Gastfreundschaft.
Heute ausschlafen, dann dreckige Wäsche nehmen und mein erstes Mal Waschsalon „Sauberland“ erleben: Anfangs waren Heidi und Nele noch hier und haben für alle gewaschen. Wie die das nur gemacht haben? Niemand sprach Englisch, nur dieses so komplizierte estnische Kauderwelsch. Es wird Zeit, dass ich den Sprachkurs beginne!
Aber günstig war das Sauberland, nur 75 EEK, also etwa fünf Euro für Waschen und Trocknen von einem Riiiiesenberg Wäsche. In völliger Panik wusste ich nicht, wie ich was waschen sollte. Ich wollte meine Schwester anrufen, doch mein Handy sagte nur: Verbindungsfehler! Nein! Also alles in eine Maschine, 40°C (wird schon passen) und ab geht’s. Eine Stunde Waschen, da kann man die Zeit gut nutzen, um nebenan zu Stockmann, der finnischen Department-Store-Kette zu gehen, und was zu essen (einen Broilerifillegda-Wrap). Ich bin pünktlich wieder zurück, packe alles in den Trockner, und schaffe es nach weiteren 15 Minuten sogar noch in der Zeit, um 16.00 Uhr bei meinem Treffen in der Schule mit Valentina zu sein.
Sie gibt mir ein paar Ordner, die über den Conversation Club und meine „Vorgänger“, also die ehemaligen Freiwilligen wie Fabian, berichten. Sehr interessant. Danach unterhalten wir uns bestimmt zwei Stunden, und noch sind nicht alle Fragen geklärt. Nächstes Treffen: Morgen 11.00 Uhr, Language School in Down-Town.
Den Kopf voller neuer Ideen und Gedanken schlendere ich durch die Altstadt, gehe im Viru Shopping Centre schnell noch eine Pizza Quattro Formaggi essen, und nehme dann den Bus N° 35 zurück zu Alex’ Wohnung. Sechster Stock, ein unheimlicher Sowjet-Fahrstuhl wartet. Ich nehme lieber die Treppe.
Nur Sveta ist da. Ich sage „Priviet“ und klemme ich vor meinen Laptop. Tracey Chapman läuft im Hintergrund. Und ich fühle heute schon sehr viel weniger allein als noch vorgestern.
Gutes Gefühl!