Die Esten sind polyglott und pleite beim Friseur
Eine ganz normale Woche für janhkorte ist in Estland zu Ende gegangen. Währenddessen hat er seinen Typ verändert, anregende Radiowerbung kennen gelernt, Beethoven auf Estnisch einstudiert und die Welt ein bisschen von Vorurteilen befreit. Ganz normal eben.
Heute gibt es eine typische Woche im Leben eines Freiwilligen in Estland:
Dienstag: Der erste Frisör-Besuch
Soll ich’s wirklich machen oder lass ich’s lieber sein? … Jein! Aus dem Jein ist nach langem Hin und Her dann doch noch ein überzeugendes JA! (oder ein estnisches JAH!) geworden, und so begann mein Abenteuer.
Ich komme beim Friseur an, von dem man mir sagte, er sei günstig (zumindest behaupteten das meine Arbeitskollegen), und erkläre in vollem Überschwang: „Tere. Kas te räägite inglise keelt?“ (Hallo, sprechen Sie Englisch?). Es kommt ein verhaltenes „Natuke“ – ein wenig. Besser als gar nichts. Die Tortur beginnt also.
Nach dem Waschen der Haare (schon das Shampoo roch interessant) geht es ans Schneiden. Hilflos wie ich bin, fängt sie an zu schnippeln, und da sie auf meine englischen Bemerkungen nicht reagiert, probiere ich es auf Holper-Estnisch: „Veel väga pikk, palun.“ (Noch ziemlich lang, bitte.) – „See ei ole hea.“ (Das ist nicht gut.) Es nützt alles nichts.
So komme ich nach einer geschlagenen Stunde und um 120 Kronen (= 8 Euro) erleichtert aus dem Frisörsalon. Der Preis war totaler Wucher, wie ich festgestellt habe. In Tapa, hat Bethan mir gestern erzählt, zahlt man nur 40 Kronen! Ich sehe aus wie eine frisch geschiedene Frau (!) Mitte 40, die sich nach langer Abhängigkeit mal etwas Neues gönnen will. Grässlich. Das wurde dann auch noch von meinen Mitbewohnern bestätigt. Ich bin ruiniert. Aber was lässt man nicht alles über sich ergehen!
Donnerstag: Telefonhotlines à l’estonienne
Radio Uuno. Billiger Pop und Songs aus den 80ern und 90ern. Verbunden mit dieser unverkennbaren „Radiooooo Uuuuunoooo“-Melodie. Doch dann, es wird nach Mitternacht, und es ertönen Stimmen. Stöhnende Stimmen. Stimmen, die man eher nachts um RTL II im Fernsehen erwarten würde. Aber wir sind im Radio. „Oouhh… jaaaaa… viis viis…. kuus… kuus!“ Komm, wähl fünf fünf… sechs… sechs! Auf Estnisch. Im Radio. Für all die Massen einsamer Männer, die sich keinen Fernseher leisten können. Eine Gedenkminute!
Freitag: Beethoven ist polyglott
Gospelchorprobe. Das nächste Lied heißt: „Ood rõõmule“. Gestraft sei, wer Schlimmes denkt. Nein! Wir beginnen. Mmh. Moment. Die Melodie kenne ich doch! Es ist „Freude, schöner Götterfunken“. Auf Estnisch. Vierstimmig. Verjazzt. Rhythmisiert. Unglaublich. Die feierliche Stimmung runden schließlich noch zwei estnische Kinderweihnachtslieder ab. Häid pühi! (Frohes Fest!)
Samstag: AIDS bekommen nur die Esten!
Thema im Conversation Club ist heute HIV und AIDS. Leider sind nur zwei Personen anwesend. Aber was für welche. Es hat mich geschlagene zwei Stunden gekostet, um mit Vorurteilen aufzuräumen. Da die beiden Jungs Russen sind (ist ja auch eine russische Sprachschule), geht alles über die Esten: Nur die Esten kriegen AIDS. Das sind alles Drogenabhängige und Prostituierte. HIV-Positive sind doch voll blöd. Ich würde nie einen berühren. Ich kann mich sowieso nicht infizieren. Russen bekommen kein AIDS. Dann artet die Diskussion aus: Esten sind langweilig, schlagen einander, haben eine blöde Mentalität. Am Ende konnte ich sie besänftigen. Auf dem Feedbackpaper, das ich nach jeder „Session“ herumgehen lasse, steht: „I’ve changed my opinion to HIV people. Thank you, Jan!“ oder „I learned a lot. I will tell my friends. Estonian people are not bad!“. Das macht glücklich. Auch wenn man nur die Vorurteile eines einzigen eliminieren kann, ist schon viel geschafft. Das ist meine Aufgabe im Conversation Club. Und meine Aufgabe für jenen Samstag.
Sonntag: Das erste Mal pleite sein
Schnell noch eben zum Hansapank-Geldautomaten. Schnell. Na ja. Ich drücke auf „Statement“ und erhalte meinen Kontoauszug. Schock. Was steht dort? 58.73 EEK. Ich habe nur noch 58 Kronen, von denen ich maximal 50 abheben kann?! 50 Kronen sind gerade mal 3,50 Euro. Es ist der 23.10. und ich muss noch mindestens sieben Tage überleben, bis ich wieder Geld bekomme. Das fühlt sich erstmal hilflos an. Pleite. Das hatte ich noch nie. Aber dieser Monat war so teuer, mit dem neuen dicken Winterpulli, dem Trip nach Helsinki, dem neuen Jamie-Cullum-Album, der Handyrechnung. So macht man immer neue Erfahrungen. Glücklicherweise gibt es Familie und Freunde, die einem da behilflich sind!
Auf dass schnell der Erste des Monats kommen möge! Schnell.