Zwischen den Jahreszeiten
"Nass ist nur, wer sich nass nennt und keinen Weg zur Sonne kennt."
Die Tage fliegen so dahin.
Ich sitze im Bus auf dem Weg zurück von Šiauliai nach Kaunas; neben mir hat es sich eine alte Frau mit buntem Kopftuch gemütlich gemacht, die wahrscheinlich bei einer der nächsten Dorfhaltestellen aussteigen wird um ihre zwei Eimer frischer Waldpilze und selbstgestrickter farbiger Strümpfe zu verkaufen.
Auch ich muss mich bei den rauhen Oktobertemperaturen schon dick einpacken, wann immer ich mutig genug bin unsere warme Küche zu verlassen und dem Wind und Regen die Tür zu öffnen. Immer seltener scheint jetzt die Sonne durch die dunkelgrauen Wolkendecken Litauens, und vor einer Woche hat es morgens schon zum ersten Mal geschneit.
Das Stadtleben zieht sich immer mehr von den Straßen zurück in die Häuser hinein, nach und nach verschwinden sämtliche Sitzplätze in den Innenhöfen, die Straßenmusiker sind meist nur noch in Unterführungen anzutreffen und die Obst- und Gemüsehändler haben ihre Ware auf Zwiebeln und Kartoffeln beschränkt.
"Die einzigen lachenden Gesichter, die man zu dieser Jahreszeit auf den Straßen sieht sind die Alpinisten", sagt Laris, "wir müssen nämlich nicht arbeiten, wenn es regnet!" Dann ist Litauen wohl eine gute Wahl für alle Alpinisten.
Auch in Šiauliai, was übersetzt etwa "Sonnenland" heißen müsste, habe ich von der Sonne nicht viel mitbekommen. Šiauliai als viertgrößte Stadt Litauens war- wer hätte es gedacht- nicht unbedingt sehr groß, zumindest das, was ich davon in der kurzen Zeit sehen konnte.
Die Polizei in Šiauliai benötigte den Pass einer in Kaunas in Haft sitzenden Frau und ich als Mädchen für alles -und glücklich damit- spiele also den Boten.
Vielleicht werde ich eines der kommenden Wochenenden nocheinmal dorthin fahren, um mehr von der kleinen Stadt zu sehen. Hier in Litauen ist halt alles ein bisschen gemütlicher, und ich merke gerade, dass es mir immernoch Euphorieschübe gibt "hier in Litauen" sagen zu können.
Lietuva - didelė bet graži, klein aber schön.
Je mehr Litauisch ich Tag um Tag verstehe, desto wohler fühle ich mich. Es dauert zwar, aber selbst meinen Arbeitskolleginnen fällt auf, dass mir alles jeden Tag ein bisschen leichter fällt. Gerade erst habe ich das Wort "storas", "dick" gelernt, und zum Glück!, denn wie hätte ich sonst heute morgen die fabelhafte Streiterei zwischen der launischen alten Dame und dem nicht gerade schlanken Herrn, der sich neben ihr auf den freien Sitzplatz im Bus geschmissen hat, verstehen sollen? Bei der nächsten Haltestelle stand sie laut fluchend auf um sich neben mich zu setzen und sämtliche litauische Schimpfwörter, die ich bereits kenne, auf die gesamte Welt hageln zu lassen und mir dann begeistert zu erzählen, dass ihre Tochter ja in Deutschland lebe und es dort zu gut gefällt - vollkommen ignorierend, dass ich kein litauisch verstehe.
Aber das stimmt garnicht mehr, denn irgendwie habe ich ja doch begriffen, was sie mir erzählen wollte. Ein paar Fetzen einer Sprache, dazu Mimik und Gestik, und schon hat man eine Unterhaltung! Ebenso gestern, als ich eine Klientin zu den öffentlichen Duschen begleitete. Ohne wirklich viele Wörter zu kennen hatte ich für eine halbe Stunde lang eine nette Unterhaltung übers Reisen mit einer älteren Dame, die mich eigentlich nur nach den Toiletten fragen wollte und mich dann mit fünf Postkarten als Geschenk verließ, die ich ja an meine Familie und meine Freunde schicken solle, denn das sei sehr wichtig.
Natürlich trifft man nicht nur angenehme Leute, wo tut man das schon, und gerade die dreisten Fotografen in der Altstadt zerren mittlerweile an meinem Geduldsfaden, aber wann immer ich einmal nicht so gute Laune habe, mache ich mich auf in den Bus gen Altstadt, denn irgendwie haben ein paar freundliche Gesichter dort es immer vermocht, mich wieder zum Lachen zu bringen, und das macht Kaunas zu meinem Zuhause.
Mittlerweile treffe ich jeden Tag Bekannte auf meinem Weg zur Arbeit, grüße, rede, oder verabrede mich, und wunder michh vor allem, wie schnell eine fremde Stadt so heimelig werden kann.
Ich konnte Tamara nur zustimmen, als sie letztens auf der Terasse des Džem'pub stand, auf die laternenbeleuchtete Freiheitsallee niedersah und sagte: "Irgendwie liebe ich Kaunas."
Es ist nämlich garnicht so grau und kalt hier wie es manchen auf dem ersten Blick vokommen mag. Setzt euch doch mal zum Neo-Hippie Patrikas und erlebt indische Goa-Musik in der geografischen Mitte Litauens, oder noch besser, setzt euch doch auch mal zu den Straßenmusikern und lernt die vielleicht interessantesten Leute der Stadt kennen. Und schon ist alles voller Farbe, selbst der Regen, de rüberall lauert, kann die Farben nicht verdecken.
Und aus diesem Grund ist Kaunas für mich so viel sonniger als es im zugegebenermaßen wunderschönen Vilnius ist, als in all den Dörfern und Kleinstädten, an denen ich Schlagloch um Schlagloch vorbei fahre, und auch sonniger als das so sonnig beschriebene Šiauliai.
Kurzum: Mir gehts gut.
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