Szenen meiner Zeit - Chisinau
Freitag: eine Busfahrt, dann Kino – Szenenwechsel: ein Büro – Klappe, dann: ein Rockkonzert – neuer Ort: eine Küche, in der gleichzeitig gebacken, Rumänisch gelernt und Spanisch gelauscht wird – Samstag: ein Radiostudio, mart als Gast – schließlich: erst Bären im Zoo, dann russisch-rumänisches Trolleybusfahren. Geschichten aus Chisinau.
Chisinau, ein Freitag. Im Minibus Nummer 102, viel zu spät, wie immer in dieser Stadt. Nur drei Minuten Fahrt zum kostenlosen französischen Film. Wie so oft im Minibus: "Russ – ka – je – Ra – di - o". Auf einmal: Eine Version von Gershwins 'Summertime' aus Porgy & Bess. Gefesselt von der Situation schaue ich durch die Scheiben auf die staubigen Straßen. Das Ende kommt schon näher. Irgendwie werde ich Dich vermissen.
In der Alliance Francaise, mit Cristina.
'Mon oncle' von Tati – wird sofort zu meinem liebsten Film. Hemmungslose Satire auf das moderne Leben, auf die Amerikanisierung. Aus den 60ern. Das ganze in so warmen, ausdrucksstarken, lebendigen Bildern, wie sie heute nie mehr gemacht werden.
Die Franzosen wissen wirklich, wie sie ihre Kultur vermitteln.
Ein Büro, ein Wochentag.
Jaaa, wir haben einen neuen PC!!! Nein, nichts geht mehr. Noch weniger als zuletzt. Ich wechsle das Büro, gehe zu Cris' Schwester Dana in die Women-Trafficking-(besser gesagt Frauenhandelbekämpfungs-)NGO. Irgendwie verbringe ich mehr Zeit bei ihr auf der Arbeit als mit Cristina... Ganz gefährlich…
Chisinau, ein Donnerstag.
Seit zwei Stunden drehen ein paar Jugendliche total durch. Es ist Rock pentru refugiati – Rock für Flüchtlinge. Die Band Lou, deren Sänger – ratet mal, wie der heisst – Cristina mag und ihr Gitarrenstunden geben wird, macht den Anfang. Unter blauem Himmel rockt Lou mit seiner Band die Massen warm.
Dann machen die Snails, eine Beatles-ähnliche Gruppe, weiter. Punks pogen! Unglaublich, neu für mich! Bei den rumänischen Altrockern von 'Iris' ist Chisinau dann ganz aus dem Häuschen. Die alten Herren geben ihr Bestes - und sind gerührt.
Chisinau, ein Samstag.
Backnachmittag mit Cristina. Rezept: Ouä, farina, zahar, sare, lapte. Si smintina. Eier, Mehl, Zucker, Salz, Milch, und schließlich auch Smintina, eine Art Sahne, ergeben, um Brinza, den einzigartigen Käse, gewickelt: Clatita. Gefüllte Eierkuchen. Köstlich. Und das ganze bei Habla con ella naschen. Spanischer Film (großartig) mit rumänischen Untertiteln, deren Umlaute der russische PC falsch wiedergibt. Ich bin mal wieder lost in translation, mein 8.Klasse-Volkshochschul-Spanisch meldet sich aber nach 40 Minuten Unverständnis zaghaft zurück.
Anruf von Ionuti - 'hast du morgen Lust auf ein Interview?'
Chisinau, ein Sonntagmorgen.
Gähn. Ionuti, einer der Freunde von Cristinas Schwester, arbeitet beim Stadtradio Antenna C. Vierzig Minuten plaudern wir über Deutschland und Moldau, Frauen und Geld, Fußball und Musik. Voller Spaß, im Stile eines alt eingespielten Morgenshow-Teams. Auf Rumänisch!
Meine Zuschauerpreisfrage: 'Was ist die schönste Stadt der Welt – na, sagen wir Deutschlands? Gleich der erste Anrufer sagt: Dresda – Geschockt, mit offenem Mund, staune ich eine Weile blöd vor mich hin. Sogar hier wissen es die Leute!
Dem Gespräch folgt der übliche Trott - "Maria aus Ialoveni" wird bald einen Agrikultur-Experten aus Deutschland zu Besuch haben und will mit mir reden. Ja und? Ja, und was soll ich ihr erzählen?
Am Abend bekomme ich eine SMS von Daria, aus meiner NGO: „I had a good time laughing hearing you this morning.“ Na danke. Mir wird klar, was ich eigentlich erzählt habe. „Da gibt es schon viele dumme Mädchen hier.“... „Deshalb habe ich jetzt lange Haare und einen Bart und bin hässlich.“... „Gibt's denn hier Fußballfans?“ „Zwanzig?“... „Aber noch ein Auto kann ich Maria nicht mitbringen.“... Und noch ganz viele andere Sachen… ;)
Chisinau, im Zoo.
Eigentlich wie jeder arme Zoo: Zwei-Meter-Bären laufen auf Fünf Metern Fläche auf und ab. Die Besucher kaufen für 6 Cent Zuckerwatte, die ihren Kindern das Leben kurzzeitig erhellt und langfristig zur Hölle macht.
Nach 15 Minuten haben Cris und ich alles ausgiebig betrachtet und widmen und einer Discofox-Tanzstunde auf dem Weg zum Trolleybus. Das Tor Chisinaus glänzt in der Sonne.
Chisinau, ein Trolleybus.
Und sie sind doch Politiker, alle zusammen. Wenn es um die Frage geht, „Was bin ich?“ ist jeder um mich herum allwissend. Russe, Moldawier, Rumäne – jeder Standpunkt ist klar. Jeder meint, sich erklären zu müssen.
Von der Zauberberglektüre richtet sich mein Blick diesmal auf einen kleinen Mann mittleren Alters, der drei jungen Frauen angeregt auf Russisch erklärt, warum Rumänien die schlechtere Wahl ist. Die Lage entspannt sich und spannt sich erneut an, der ganze Bus nimmt lächelnd Anteil. Zehn Minuten später, als die Damen aussteigend vor ihm zu flüchten suchen, verfolgt er sie, hoch motiviert...
Chisinau, nur einige Deiner vielen Geschichten.