Erwartungen lohnen sich nicht
Wie ich jetzt versuche, jeder Situation, jeder Person und jedem Ort unbefangen zu begegnen.
Ich war 16. Fasziniert von den AFS- Freiwilligen, die an meinem Gymnasium einen Vortrag über ein Auslandsjahr hielten. Sie sprachen von ihren Erfahrungen im Ausland, wie ihr Jahr an einer Schule im Ausland, ihr Leben und ihren Weg verändert hat. Ich hörte gebannt zu, war begeistert und dachte mir gleichzeitig: Das ist für dich unmöglich. Ich erwartete nicht, dass ich es als Austauschschülerin ins Ausland schaffen würde. Ein Trugschluss. Viele ausgetragene Zeitungen, ein wenig Erspartes, ein Stipendium und Auslands-Bafög machten es möglich.
Nach Aufnahme ins AFS- Programm und der Bestätigung der USA als mein Gastland, konnte ich es kaum abwarten. Ich wollte, dass es losgeht. Am liebsten sofort. Ich las alles, Erfahrungsberichte anderer Austauschschüler, Tipps und Tricks, Packlisten. Eben alles, was mir in den Blick kam. Es entstand ein Bild in meinem Kopf. Besser gesagt, viele Bilder. Ich stellte mir vor, wie meine Gastfamilie sein würde. Idealisierte. Malte mir die Landschaft aus, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal klar war, in welchem Bundesstaat ich zehn Monate leben würde. Überraschung: Keine meiner Erwartungen hat sich erfüllt. Jeder noch so kleine Aspekt war anders, stimmte nicht mit meinen Erwartungen und Vorstellungen überein. Und das war richtig so! Ich hätte nie erwartet, mich irgendwann mit einer Austauschschülerin aus Kasachstan über meine Lieblings-Greys Anatomy-Folgen auszutauschen. Ich hätte auch nie erwartet mit meiner Drama Class in einem Theaterwettbewerb des Bundesstaats New Mexico den ersten Platz zu belegen.
Ich hätte mir keine dieser Situationen ausmalen können. Alles kam anders. Meine Erwartungen wurden nicht erfüllt, dafür wurde jede Sekunde mit unvergleichlichen Erinnerungen gefüllt. Erwartungen bremsen und lassen einen eventuell sogar diesen einen besonderen Moment verpassen, da man so fixiert darauf ist, dass sich eine Erwartung, eine Vorstellung von etwas erfüllt. Eine Vorstellung, die sehr wahrscheinlich durch Erzählungen und Bilder im Internet und in Büchern geprägt wurde. Nicht von den Menschen, Situationen und Orten, an die man diese Erwartungen hat.
Die vielleicht wichtigste Erfahrung, die ich für mich aus dieser Zeit mitgenommen habe und die bis heute einer meiner Grundsätze ist: Erwarte nichts! Lasse dich auf Situationen, Menschen, Orte ein. Sei so unvoreingenommen, wie es nur geht! Denn so kann jeder Situation, jedem Menschen, jedem Ort die Möglichkeit gegeben werden, unvergesslich zu sein.
Also: Werft eure Erwartungen über Bord, seid offen, verfolgt eure Ziele und lasst euch nicht von Stereotypen, Bildern und Erzählungen blenden. Schreibt und erlebt eure eigenen Geschichten. Am Ende kommt es sowieso immer anders.