Ein bisschen Sonne
Wieso schleppt sie diesen Koffer mit sich herum? Was ist es, was sie so besonders macht? Er steht am Bahnhof, und weiß nicht, warum er plötzlich losläuft, die beiden Kastanien in seiner Tasche fest aneinanderdrückt...
Es muss ein Leben sein, was sie da drin trägt, in diesem schwarzen Ungetüm. Ihr ganzes Leben in einem Koffer. Sie kommt mit ihrem Leben in diese Stadt - und ringt mit dem großen schwarzen Etwas. Er sieht ihr aus der Ferne zu, wie sie an ihrem Koffer zerrt. Sieht sie glücklich aus? Etwas verwirrt vielleicht, zerzauste Haare, müde, geschafft von der langen Reise, von dem alten Ort, aus dem sie ihr Gepäck mitgebracht hat. Ja, doch, vielleicht ist sie glücklich, etwas in ihr scheint zu strahlen, auch aus der Ferne kann er es fühlen. Vielleicht, weil sie weiß, was in ihrem Koffer ist, weil sie weiß, was sie mitbringt. Oder einfach weil sie weiß, dass sie bald diesen schweren Koffer abstellen und müde auf ein Sofa fallen wird, ausatmen und entspannen kann. Aber vielleicht ist auch alles ganz anders.
Irgendetwas in ihm sagt, er muss es tun. Er geht zu ihr und spricht sie an. Normalerweise macht er so etwas nicht, aber heute ist kein normaler Tag. Heute strahlt die Sonne in einer besonderen Weise vom Himmel, die Häuserdächer schimmern golden, die Straßen glitzern vom Tau; selbst die Vögel scheinen diese besonderen Moment zu spüren, sie zwitschern ihre Lieder lauter als sonst. Er fühlt die beiden Kastanien in seiner Jackentasche und den leichten Druck, wenn er sie in die Hand nimmt, gegeneinander presst. So wie er es immer macht, wenn er einen Moment besonders erleben möchte. Und deshalb geht er zu ihr hin und spricht sie an. „Soll ich dir vielleicht beim Tragen helfen? Macht nicht gerade einen leichten Eindruck, das Teil." Sie sieht ihn müde und dankbar an. „Ja, danke, das wäre wunderbar! Aber pass auf, er ist wirklich verdammt schwer."
Als er den Henkel des Koffers packt, verflucht er sich innerlich, dass er wirklich angeboten hat, ihr Gepäck zu tragen. Schwer? Einen Hinkelstein zu tragen wäre ein wahrer Spaziergang dagegen. Aber er schluckt seine schlechten Gedanken hinunter, denn irgendwas in ihrem Lächeln, in der Art, wie sich dabei kleine Fältchen um ihre Augen legen, erleichtert das Gewicht des Koffers. Er beißt die Zähne zusammen und zerrt den Koffer die Treppen des Bahnhofs hinunter, um ihn am anderen Ende der Unterführung wieder nach oben zu schleppen.
Vor dem Bahnhofsgebäude angekommen, sieht sie sich immer wieder nach allen Seiten um. „Okay, hey, du hast genug geschleppt. Danke dir, hast mir echt geholfen. Ich müsste eigentlich gleich abgeholt werden, stell den Koffer einfach hier ab." Er sieht sie lange an und bleibt noch ein paar Sekunden bewegungslos vor ihr stehen, den Koffer immer noch in der Hand. „Na was ist nun, willst du ihn mit nach Hause nehmen?" Sein Blick löst sich von ihr und das Gewicht wieder spürend, stellt er den Koffer neben ihr ab. „Wenn du willst kann ich hier mit dir warten, bis du abgeholt wirst. Nicht dass dir noch jemand deinen Koffer klaut." Sie lacht und zieht ihn wieder in den Bann. „Okay, wie du meinst. Aber du musst wirklich nicht, du hast sicher noch was vor heute." Schön wär's, denkt er innerlich. „Nein, nein, schon gut, mach ich gerne."
So stehen beide schweigend nebeneinander, blicken manchmal verlegen aneinander vorbei und wissen nicht so recht, was sie sagen sollen. Als sich ihre Blicke treffen, hatte sie wieder ihr unbeschreibliches Lächeln auf den Lippen. Warum nur war es so besonders? Ihr Koffer, ihr Leben, all das konnte nicht schwer genug sein, dass es nicht mit diesem Lächeln entlohnt werden konnte. Keine Sekunde bereut er, dass er sie angesprochen hatte, ganz egal, ob er sich einen Leistenbruch geholt hätte mit der Schlepperei.
Er spürt wieder die Kastanien in seiner Jackentasche, die er jedes Jahr sammelt, sobald sie von den Bäumen fallen. Um die glatte Oberfläche zu fühlen, die kleine rauhe Stelle und jede Macke der Kastanien, denn jede war einzigartig. Er gibt sich noch mal einen Ruck.
„Warum bist du hierher gekommen? Ich meine, was machst du hier? Und warum schleppst du so schweres Gepäck mit dir rum?" Da dreht sie sich um, beugt sich zu ihrem Koffer und fragt lachend: „Willst du die kurze oder die lange Version hören?" Sie schaut zu ihm auf, zerrt am großen Reißverschluss und öffnet den Koffer mit flinken Bewegungen. Er runzelt die Stirn, warum sie für ihre Geschichte dieses Monstrum braucht versteht er wirklich nicht. Doch neugierig geworden, versucht er, über ihre Schulter ins Innere des Koffers zu linsen. Er traut kaum seinen Augen, als er erkennen kann, was sich darin befindet. Kein einziges Kleidungsstück, kein Kulturbeutel, keine persönlichen Gegenstände, nichts was man zum Leben brauchen könnte. Nur: Fotos. Abertausende Fotografien. Aber keine gewöhnlichen Fotos. Auf jedem, wirklich jedem einzelnen, ist die Sonne zu sehen. Eines gleicht dem anderen. Für das also hat er sich so abgeschleppt? Er kann es kaum glauben, wird fast ein wenig wütend. Er versteht nicht, was das soll, warum jemand kiloweise identische Fotos durch die Weltgeschichte zerrt. Sie sieht es ihm an. „Ja ich weiß, du hältst mich jetzt vielleicht für bescheuert. Aber schau dir die Fotos mal genau an! Was passiert? Du empfindest Wärme, ein gutes Gefühl, oder? Und vergleich sie mal, schau dir jedes Detail an! Auf den ersten Blick sehen sie alle gleich aus, aber es gibt so viele spannende Unterschiede." Tatsächlich, als er ein paar Fotos aus dem Koffer nimmt, erkennt er, dass sie sich doch nicht wirklich alle gleichen. „Man muss warten, neugierig sein. Dran bleiben. Und dann findet man ein bisschen Sonne. Das ist es doch, was wir brauchen, oder?" Während sie erzählt und ihn von der Einzigartigkeit der Bilder zu überzeugen versucht, erröten ihre Wangen vor Begeisterung. Sie strahlt beinahe selbst wie die vielen Sonnen aus ihrem Koffer. Er zieht noch ein paar Fotos heraus, betrachtet sie näher und sieht sich gleichzeitig immer wieder das Mädchen, das ihm gegenübersteht, an. Plötzlich versteht er - in dem Koffer, diese Bilder, das ist genau sie, das Mädchen ist diese Sonne. Mit allen unterschiedlichen Erfahrungen, die sie gesammelt hat, strahlt sie diese Wärme aus. „Schau, wenn Wolken kommen, dann mach ich einfach meinen Koffer auf und seh hinein, und die Wolken verziehen sich. Manchmal dauert es etwas länger, weil sie wie Unwetterwolken sind, ein anderes Mal aber sind sie nur ganz dünn und ziehen deshalb schnell vorüber. Aber ich kann sie immer wieder vertreiben, mit all dem gesammelten Sonnenschein, der reicht für meinen Weg allemal. Es kommt ja auch immer was dazu. Ein Jahr hab ich gebraucht, um das hier zu sammeln, wieviel es wohl erst in 20 sein werden?" Sie streckt zufrieden lächelnd ihr Gesicht der Sonne entgegen, ihr ist es völlig egal, dass das alles viel zu sehr nach heiler Welt klingt. Nein, sie ist einfach glücklich. Ein Hupen ertönt, sie blickt auf und sieht in Richtung eines alten VWs. „Du, ich glaube, ich werde abgeholt. Hier - behalt das Foto. Es hilft dir vielleicht." Er nimmt es, kann kaum etwas sagen, sie verschließt schnell wieder ihren Koffer und zerrt ihn zum Wagen. Er sieht ihr beim Koffereinladen zu, wie erstarrt, das Foto in den Händen. Als sie ins Auto steigt, ruft er noch „Hey!" Sie sieht beim Einsteigen noch einmal auf, wartet. „Sehen wir uns wieder?" „Klar!", sagt sie, lächelt und zeigt nur Richtung Sonne. „Mach's gut!" Sie winkt noch dann schließt Wagentür hinter sich. Irritiert sieht er dem davonfahrenden Auto hinterher, schüttelt den Kopf, kann es noch nicht ganz glauben. Er dreht sich um, sieht Menschen an sich vorbeiziehen, die in Eile ihr nächstes Ziel erreichen wollen. Dann blickt er noch einmal auf das Foto, kaum merklich scheint die Sonne auf dem Bild zu verblassen. Wie um das zu verhindern, steckt er es schnell in seine Tasche.
Ruckartig fährt er hoch, verwirrt, erschrocken. Er sieht sich um. Alles ist dunkel. Wo war er? Ein lautes Piepen bohrt sich in seine Ohren. Schmerzverzerrt verdreht er die Augen und spürt ein leichtes Pochen in seinem Kopf. Seine Hand wandert zum Wecker, die Quelle des nervtötenden Lärms. Er schaltet ihn ab und lässt seinen Kopf noch einmal ins Kissen fallen. Letzte Nacht hatte er nicht einmal seine Jacke zum schlafen ausgezogen, verdammt, er sollte mit dieser Trinkerei aufhören...
Seine Gedanken schweifen zurück zu dem Traum, den er hatte. Warum hat dieses Mädchen ihn so berührt? Aufgewühlt und matt steht er langsam auf, öffnet mit zwei Fingern einen spaltbreit die Jalousien und linst hindurch. Die Sonne im Leben sammeln? Wolken vertreiben? Das klingt zu viel nach heiler Welt.
Er tastet nach seinen Kastanien in der Jackentasche. Der Druck, die rauhe Oberfläche, sie lassen ihn in die harte Wirklichkeit zurückkehren. Ruhe kehrt langsam zu ihm zurück. Doch da fühlt er noch etwas in der Tasche. Ein Stück Papier, er kann sich nicht erinnern, ein Papier eingeschoben zu haben. Er zieht es heraus - sein Blick fällt auf ein leicht verknicktes Foto. Er streicht es glatt und... ihm strahlt eine Sonne entgegen. Etwas in ihm lässt ihn lächeln. Er schüttelt zufrieden den Kopf und öffnet die Jalousien, um die Sonne in sein Zimmer zu lassen...
Kommentare