Ein Bericht
Stoertebeker schreibt über Druskininkai, Kaunas und Vilnius. Und darüber, wie die Zeit vergeht...
"On the bank of the Vilnelė a lonely mermaid listens to everybody"
Rūta Telešienė
Während wir am kleinen Fluss Vilnelė entlang schlendern, dem Vilnius seinen Namen verdankt, Wollmützen auf dem Kopf und Hände tief in unseren Manteltaschen, erzählt Fjodor uns von der unglücklich verliebten Meerjungfrau, die hier leben soll.
Heute Abend, beim schummrigen Neonleuchten der Straßenlaternen möchte man tatsächlich meinen, dass hinter jeder gewundenen Gasse ein Fabelwesen oder sonst etwas Übersinnliches hocken könnte, denn Vilnius selbst erscheint einem ja wie eine Stadt aus einem Märchenbuch abgepaust. Hier eine gothische Kirche neben der alten geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität, dort ein weiterer gepflasterter Fußgängerweg wie aus dem Bilderbuch.
Nachdem ich die letzten zwei Wochenenden in Kaunas verbracht habe, dachte ich, es sei einmal wieder Zeit, Hauptstadtluft zu schnuppern, und habe mich Samstagmorgen auf den Weg zu den anderen Freiwilligen in Vilnius gemacht.
Nachdem ich die Woche nur zwei Tage zur Arbeit musste und auch an diesen beiden Tagen nicht sonderlich viel zu tun hatte, hat es mir in den Füßen gekribbelt und ich habe mich aufgemacht, für zwei Tage in der Stadt herumzuklabautern.
Zwar waren wir Donnerstag mit einigen der Mitarbeiter der Caritas in Druskininkai, eine Stadt im Süden Litauens, die für ihre schönen Wälder und Seen bekannt ist, doch das war nicht lang genug, um die Reiselust unterdrücken zu können.
Es war schön, mit den anderen Caritas Freiwilligen und Mitarbeitern sämtliche Saunavarianten von finnischer bis ägyptischer Sauna zu genießen, aber noch schöner war es für mich, nach dem Nachmittag im Aqua Park zur Mutter unseres Vorgesetzten in ein kleines Dorf in der Nähe von Druskininkai zu fahren, zusammen Kerzen auf dem Friedhof anzuzünden und ein komplett litauisches Essen von sūris (Käse) mit Apfelkompott bis cepelinai (traditionelles Kartoffelgericht) mitzuerleben.
Zwar müde, aber doch irgendwie motiviert, stand Freitagmorgen wieder Litauischunterricht an, der immer komplizierter wird, dem ich aber von Tag zu Tag dankbarer bin, da es mich immer mehr zu Jucken anfängt, verstehe ich nicht, worüber gerade geredet wird.
Mir wurde schon des Öfteren gesagt: "Was? Du bist erst seit zwei Monaten hier und kannst schon so gut Litauisch?", aber so gut kommt es mir leider wirklich nicht vor. Zumindest nicht so gut, dass das Jucken aufhört, wenn ich mich nicht verständigen kann, deshalb muss ich weiter hart dranbleiben, sämtliche Endungen der sieben Fälle zu lernen, und zwar die weiblichen Formen, männlichen Formen, Plural und Singular. Wieder auf der Schulbank!
"But you know Hanna, you are gifted, you remember the words easily", hat meine Chefin Krystina mir klarmachen wollen, und jetzt könnt ihr bestimmt auch nachvollziehen, wieso ich die Caritas Kaunas so ins Herz geschlossen habe.
Hauptsächlich dreht sich momentan alles um die Arbeit mit den Klientinnen, mit manchen fällt es einem leichter, mit manchen fangen langsam die Schwierigkeiten zwischen dem Balanceakt der Nähe und der Distanz an, was wohl jedem Sozialarbeiter schwer fällt. Es wird viel gelacht bei uns im Büro, und das ist auch nötig um alles verdauen zu können, was uns an manchen Tagen zu Ohren kommt. Mit all den Gesprächen innerhalb des Kollegiums und vor allem mit meiner Kollegin und Mentorin Lina habe ich einen Weg gefunden, wie ich mich gut einfügen kann, und über allem steht das warme Gefühl, helfen zu können.
Daneben gibt es dann das oftmals bunte, laute, tanzende und wundervoll internationale Leben als Freiwillige zwischen anderen Freiwilligen, die immer mehr zu werden scheinen. Ich habe meine Kontakte zu den Litauern, die ich bereits kennengelernt habe, letzte Woche ein bisschen schludern lassen, weil ich mich so wohl gefühlt habe bei all den anderen neu kennengelernten EVSern, aber das werde ich diese Woche noch nachholen.
Und so sieht es also aus, wenn man nun schon oder vielleicht auch erst zwei Monate in einem Land lebt, das den meisten Leuten in Deutschland zwar bekannt vorkommen mag, wovon aber wenige wirklich klare Vorstellungen haben werden. Zwei Monate also schon!
Und wieder wird mir bewusst, wie seltsam der Begriff der Zeit doch ist, denn wie unvorstellbar ist es, dass ich einerseits immer noch so aufgeregt bin wie am ersten Tag und es andererseits so seltsam vertraut ist, alltägliches zu tun, als wäre es immer so gewesen.
Nach der privaten Stadtführung durch die senamiestas (Altstadt) von Vilnius, einem Abendessen mit bestem litauischen Trinkwasser (Vodka) über den Lichtern der Stadt bei Nacht, und einem Besuch einer versteckten Kunstausstellung mit Reggae-Musik könnte ich mich ja unbemerkt an die Vilnelė setzen und die Meerjungfrau fragen, was sie von der Zeit hält.
Kommentare