Neuland
Gedanken aus Minsk
7. November 2013. Unter den Wolken erhasche ich meinen ersten Blick auf Neuland: Wald so weit das Auge reicht. Das Flugzeug nähert sich dem Boden und landet. Ich steige aus, raus aus diesem Konstrukt der Moderne, das uns scheinbar an einem Ort aufsaugt, um uns an einem anderen wieder auszuspucken. Meine ersten Schritte. Ich gehe durch einen langen Tunnel, an dessen Ende der Eingang in eine neue Welt wartet. Meine neue Welt. Neuland. Der Duft des Unbekannten liegt in der Luft, ich verspüre ein leichtes Kribbeln in meinem Bauch. Noch etwas verschwommen, doch immer klarer wird der Blick, langsam machen meine Augen Konturen im Dunkeln aus. Ich bin angekommen in der Fremde - zehn Monate in Minsk, der Hauptstadt Belarus', liegen vor mir, wo ich als Freiwilliger arbeiten werde. Sehnsucht nach dem Unbekannten hat mich hierher geführt - meine Vorstellung von Minsk und Belarus ist eine vage und auf besondere Art doch eine ganz bestimmte - konkrete Vorstellungen des Unkonkreten. Wie ist dieses Land, das in meinem Heimatland selten und dann meist nur durch seine Politik Schlagzeilen macht? Und viel interessanter: Wie sind seine Menschen?
Der Minsker Flughafen liegt weit weg von der Stadt. Das Gebäude - ein typischer Bau im sowjetischen Stil - irgendwie seltsam. Unsere Maschine scheint die einzige zu sein, die um diese Zeit ankommt, denn der Flughafen ist fast leer. Ich lasse den Flughafen hinter mir. Vor mir liegt die Straße, die in die "Sonnenstadt der Träume" führt, wie Artur Klinau sie beschrieb. Ich fahre los. Weite Felder, dichte Wälder und fehlende Zivilisation geben mir nicht das Gefühl, mich bald einer Großstadt zu nähern. Am Straßenrand erblicke ich das erste Monument, "Kurgan Slavy", ein Obelisk, der auf einem künstlich aufgeschütteten Hügel steht. Es ist ein Meisterstück der sowjetischen Baukunst, das an vergangene Zeiten erinnert. Grausame Zeiten, die mit einem "großartigen" Sieg endeten. Hier werden die Helden geehrt. Ein seltsamer Stolz umgibt diesen Ort, strahlt eine erhabene Imposanz aus, die ich aus Deutschland nicht gewohnt bin. Ich schwöre mir, an diesen Ort zurückzukehren.
Weiter geht es durch die endlos scheinende Landschaft, deren Monotonie mich beruhigt. Und dann kommt sie erst ganz langsam, nach einem kurzen Moment umgibt sie mich jedoch schon ganz vollständig: die belarussische Hauptstadt Minsk. Neugierig suchen meine Augen nach Menschen auf den Gehsteigen, den Bürgern dieses Landes. Die ersten U-Bahnstationen ziehen vorbei. Ich frage mich, wie sie von innen aussehen mögen. Nie habe ich eine solch breite Straße gesehen wie hier - es ist der Prospekt "Nesaleschnosti" - die Allee der Unabhängigkeit, die durch ganz Minsk führt. An seinen Seiten immer wieder Prachtbauten und Monumente, die hier wie Trophäen prangern. An diesem Tag komme ich nicht aus dem Staunen heraus - die ungewohnte und imposante Architektur, die unbekannten Menschen, die Atmosphäre der Stadt. Alle Erwartungen und Vorstellungen werden von der Wirklichkeit eingeholt, stoßen auf Entsprechungen aus der Realität. Das Unerwartete ist wahr geworden. Ich fühle mich, als ob ich eine neue Welt betreten hätte. Gewiss ist dies nicht mein erster Auslandsaufenthalt - meine Eltern sind gerne und oft verreist und mit meinen 19 Jahren bin ich schon viel herumgekommen. Doch wirklich fremd gefühlt habe ich mich auf diesen gemeinsamen Urlaubsreisen nie. Wie eine Schutzblase umgab mich die Nähe und Sicherheit meiner Familie. Doch dieses Mal ist alles anders. Nichts ist mir jetzt bewusster, als dass ich fremd bin. Ich verspüre ein nie zuvor dagewesenes Gefühl, zwischen Zufriedenheit und Glück, doch vor allem eines: Ich fühle mich frei. Grenzenlos frei. Es ist das Gefühl des Reisenden, der endlich dort angekommen ist, wo er immer hin wollte: in Neuland.
27. August. Nur noch wenige Tage bleiben übrig, bevor ich Belarus verlasse. Mit der Elektritschtka, einer Art S-Bahn, fahre ich raus aus der Stadt. Ich habe ein Ziel: Kurgan Slavy. Nach einem langen Fußmarsch vom Bahnhof erreiche ich das Monument und erklimme den Hügel. Und nun stehe ich hier und blicke gen Horizont in die Ferne. Ich denke über die vergangenen Monate nach, versuche einzelne Erinnerungen auszumachen und verstehe diese Zeit doch nur als Ganzes. Ich denke zurück an meinen ersten Tag an Minsk, an dieses ganz besondere, einzigartige, einmalige Gefühl. Gewiss bin ich immer noch ein Fremder, doch die Dinge haben sich geändert. Neues wurde zu Vertrautem, Altes muss neu entdeckt werden. Der Kreislauf schließt sich. Und ich weiß: Nie war ich mir selbst näher als jetzt. Die Fremde gibt uns die Möglichkeit, der Routine des Alltags zu entfliehen und uns in einem unbekannten Umfeld neu zu entfalten, neu zu entdecken, ich zu sein. In diesem Gegensatz und Widerspruch aus Nähe und Fremd-Sein finden wir den Schlüssel zu uns selbst, stoßen auf unseren größten Schatz: unsere Identität.