Gefangen zwischen Arm und Reich - Bulgarien
Das "Comenius"-Projekt ist ein von der EU gefördertes Austauschprojekt, das insgesamt 2 Jahre dauert. Meine Schule nimmt seit Jahren an diesem Projekt teil und das mit Erfolg. In dieser Zeit finden Fahrten in die Partnerländer des Projektes statt. In meinem Fall gab es sechs Länder, die an dem Projekt teilnahmen: Deutschland, Polen, Belgien, Spanien, Bulgarien und die Türkei. Wir Schüler mussten an einem Projekt arbeiten, das den Titel "Waterways in Europe: Opportunity or Danger?" trug. In jedem Projektland gab es neue Aufgaben für die Kleingruppen aus den verschiedenen Ländern zu bearbeiten und zu präsentieren. Da immer nur 5 Leute pro Gruppe in ein Land durften, musste man entscheiden, welches Land man gerne besuchen wollte. Für meine 3 Freundinnen und mich war sofort klar: Wir wollen etwas neues sehen. Also entschieden wir uns für Bulgarien. Mit uns kam noch ein Junge, der eine Jahrgangsstufe unter uns war und der Spaß konnte beginnen. Dachten wir.
Graues Haus. Graues Haus. Graues Haus. Oh, braunes Haus! Graues Haus. Graffiti. "Also eben waren die Häuser noch schöner", meint Hanna. "Mmh, ich glaub das hier ist eine etwas ärmere Gegend. Wird bestimmt gleich besser", sagt Lola darauf. 20 Minuten vergehen, keine Besserung in Sicht. Oh je, denke ich. Der Busfahrer hört einen seltsamen Sender mit türkischer Musik. Meine Lehrerin starrt aus dem Fenster, ihre Kollegin ebenfalls. Sie sind ziemlich ruhig. Bulgariens Hauptstadt Sofia sah auf Google Bilder eigentlich recht schön aus. Tja, Selbstdarstellung ist alles. Das hier hat nichts mit großen Brunnen, Kathedralen und Stadtparks zu tun. Ich sehe jemanden mit seiner Mikrowelle unter einem alten Sonnenschirm sitzen, hinter ihm eine Holzhütte. "Macht sich bestimmt Mittagessen", sagt Philipp, "Also irgendwie sieht das nicht nach Besserung aus." Wir biegen ab. In diesem Viertel gibt es zwar keine Holzhütten, dafür aber unendlich viele Plattenbauten, bestimmt zehnstöckig und mittendrin ein Gebäudekomplex, der an ein Gefängnis erinnert. Kotzgelbe Fensterrahmen, ein hoher Zaun drumherum. Wir halten an. Erst als ich das Basketballfeld hinter dem Zaun sehe, realisiere ich, dass das hier das Schulgebäude der bulgarischen Partnerschule sein muss. Lola und ich starren uns an und müssen lachen. Die Panik zu überspielen und nicht über das nachdenken, was auf uns zukommt, das ist jetzt die Devise. Wir steigen aus, betreten das Gebäude und da stehen bestimmt 40 Menschen mit neugierigen Gesichtern, die uns herzlich begrüßen. Wir gehen ins Lehrerzimmer und kriegen Kuchenteilchen und Milch angeboten, die wir gerne annehmen. Ich bin immer noch etwas in mich gekehrt, so kenne ich mich wirklich sonst nicht. Meine Austauschschülerin Eva ist noch nicht da, ich weiß auch nicht, wann sie mich abholt. Ich weiß nur, dass sie 13 ist, also 2 Jahre jünger als ich. Die bulgarische Gruppe nimmt uns mit in einen Klassenraum, in dem wir lustige Videos auf YouTube anschauen, bis alle abgeholt werden. Ein Starboard haben sie hier, aber dafür sind 70% der Fensterscheiben zertrümmert, Prioritäten setzen, will gelernt sein, denke ich mir. Lola, Lara und ich gehen auf's Klo. Wir öffnen die Tür und der erste Schock ist da. "Hä, wo ist denn das Klo hin?", fragt Lara. "Das ist das Klo", sage ich und muss unwillkürlich richtig stark lachen. Ich kann nicht aufhören. "Das ist nur ein Loch im Boden, Leute, wie soll das denn funktionieren, hahaha?" Der Lachanfall dauert an. Wir machen Fotos mit der Toilette, die Situation ist einfach zu skurril. Nach gut 20 Minuten ist der erste Schock überwunden, Hanna hat uns gesucht und lacht sich jetzt auch über das Klo schlapp. Dann werden alle von ihren Austauschschülern mitgenommen, nur Eva lässt sich nicht blicken. Ich kriege Angst, die Schulleiterin der Bulgaren versucht mich zu beschäftigen, doch sie wühlt mich nur noch mehr auf. Nach Stunden des Wartens taucht Eva auf und entschuldigt sich vielmals für ihre Verspätung. Sie hatte noch Hockeytraining. Wir gehen zu ihr. Ihr Haus sieht aus wie alle anderen, sie wohnt im fünften Stock direkt neben der Schule. Die Fahrstuhltür muss man mit der Hand aufschieben, generell erinnert mich alles hier stark an die 70er, auch wenn ich da noch nicht geboren war. Ich öffne den Fahrstuhl und da schaut mich ein riesiger Deutscher Schäferhund mit seinen Kulleraugen an. Ich such den Aufzug nach seinem Herrchen ab. Keine Spur. "Ehm, Eva?", rufe ich. Sie kommt und meint: "Ach, das ist ein Lieber! Komm raus da, du Süßer." Der Hund huscht aus dem Haus. Eva erklärt mir, dass es in Bulgarien sehr viele Straßenhunde gibt und, dass man nach neun Uhr abends besser nicht alleine rausgeht, weil Straßengangs die Hunde so trainieren, dass sie gehorchen und dich angreifen und dann wirst du ausgeraubt. Diese Gegend gefällt mir doch immer besser. Evas Mutter ist die liebste Person, die ich je gesehen habe,sie nimmt mich in Empfang, hat mir Handtücher bereitgelegt und mir sogar Badeschlappen für die Dusche gekauft. Warum, merke ich später, denn in der Dusche liegt rauer Betonboden, den Abfluss suche ich vergeblich, finde ihn jedoch nicht. Das Wasser läuft trotzdem ab. Evas Familie besteht aus ihrer Mutter, ihrer kleinen Schwester, die ein süßes, sehr cleveres Mädchen ist, das besser Englisch reden kann als die bulgarische Schulleiterin und ihrem kleinen Bruder, gerade mal drei Jahre alt. Evas Mutter macht sich sehr viel Mühe, kocht ein Festessen, dabei hat die Familie eine Zweizimmerwohnung, einen Klapptisch als Esstisch und keinen Fernseher. Der Kühlschrank steht auf dem Balkon. Ich bin verblüfft. Wie schafft Evas Mutter es als Putzfrau und Babysitterin mit drei Kindern über die Runden zu kommen, in einem Staat, in dem Sozialhilfe noch in den Startlöchern steht? Mein Respekt wächst vor diesen Leuten. Zu Hause heult man rum, wenn das Iphone aus der Hosentasche fällt, hier hat man nur einen Kochtopf im Haus, ein nicht funktionierendes Klo und ein Zimmer, in dem vier Leute auf einmal schlafen. Warum ist die Kluft zwischen Deutschland und Osteuropa immer noch so riesig? Mich macht die Situation wirklich traurig, auch wenn Evas Mutter sich sehr viel Mühe gibt mir die schönen Seiten Bulgariens Esskultur zu zeigen. Ich gehe früh ins Bett und bemerke nicht einmal, dass nachts das Mädchen aus der polnischen Partnerschule eintrifft, das auch bei Eva wohnt. Sie heißt Adrianna, spielt gerne Theater, genau wie ich und ist so kreativ und witzig, dass ich sie direkt ins Herz schließe. Wir drei gehen gemeinsam zur Schule, in der es Frühstück gibt. Ich sehe Lola und den Rest meiner Gruppe wieder. Philipp erzählt von dem Zockerabend bei seinem bulgarischen Partner, Lola und Lara haben am Abend noch gemeinsam etwas unternommen und Hanna? Tja, Hanna sieht etwas fahl aus. Sie kommt zu mir und erzählt, dass sie das Essen in der Schule und bei ihrer Gastfamilie so anekelt, dass sie seit gestern Mittag nichts essen konnte. Ich muss zugeben, das Essen bei meiner Gastfamilie war perfekt, aber das, was sie hier in der Schule anbieten, ist wirklich ein bisschen gewöhnungsbedürftig. Pizzaartiger Teig mit Fetakäse überbacken und vor Fett triefend. Es gibt Schöneres um sieben Uhr morgens. Selbst Lola isst es nicht und das muss schon was heißen. Unsere Lehrerinnen sind munter, sie haben im Hotel geschlafen. Sie sehen Hanna und fragen sie, was los ist, doch Hanna meint nur, dass ihr ein bisschen schlecht ist, aber, dass es schon besser wird. Die bulgarische Schulleiterin kommt an und kriegt direkt Panik. "You have to go to doctor, yes, we go to doctor!" Hanna lehnt vehement ab, doch da wird sie auch schon gepackt und zur Schulkrankenschwester geschleppt. Ich gehe mit, vorsichtshalber und aus Neugier. Wir kommen bei der Krankenschwester an, betreten den Raum und plötzlich komme ich mir vor, wie in einem schlechten Film. Die kräftige Schwester wirft Hanna sofort auf die dreckige Liege, klatscht ihre Hand auf Hannas Stirn und steckt ihr ein altes Fieberthermometer aus Glas unter den Arm. Hanna hat kein Fieber, welch eine Überraschung. Die Frau misst noch ihren Blutdruck, will ihr Aspirin geben, aber Hanna versucht immer noch zu erklären, dass ihr nur ein bisschen übel ist, doch die Schwester kann kein Englisch. Irgendwann lässt sie uns gehen. Ich merke, dass auch die medizinischen Möglichkeiten in diesem Land ziemlich beschränkt sind. Dann machen wir uns auf in die Aula, die wohl der größte Raum der Schule ist, aber auch der deprimierendste. Unsere Präsentation besteht aus einem Stand mit deutschen Spezialitäten, kulturellen Attraktionen und Flyern aus meiner Heimatstadt Weilburg. Jedes Land bereitet so einen Tisch vor und alle können rumgehen und die Partnerländer etwas näher kennenlernen. Danach folgt unsere PowerPoint Präsentation über eine Schiffsreise von Weilburg bis nach Tczew in Polen, denn jede Schule aus jedem Land muss sich eine Route von ihrem Land zum nächsten aussuchen, bei der sie verschiedene Orte besucht. Am Ende soll dann eine Europatour per Schiff entstehen. Unsere Präsentation läuft ziemlich gut. Der Rest hat sich auch Mühe gegeben, nur die Jungs aus der Türkei, deren englisches Vokabular wohl nicht sehr gut ist, lassen ihre Präsentation einfach im Hintergrund laufen, ohne etwas dazu zu sagen. Nach der Projektarbeit spielen wir noch Kennenlernspiele, ein pädagogisches Phänomen, das ich verabscheue und dämlich finde, weil es eher hemmt, als locker macht. Viel besser kann man sich kennenlernen, wenn man sich in einen Kreis setzt und einfach redet. So haben wir es mit der spanischen Gruppe gemacht, die jetzt die ganze Zeit mit uns verbringen. Mit den Bulgaren Kontakt aufzunehmen, ist schwieriger als gedacht. Entweder sie verstehen uns nicht gut, da alle bis auf Eva eher schlecht als recht Englisch sprechen, oder sie sind einfach schüchtern und haben ihre Cliquen, in denen sie sich wohl fühlen. Mit zwei bulgarischen Jungen unterhalte ich mich kurz, doch als ich das Hakenkreuz auf ihren T-Shirts sehe und gefragt werde, was ich von Adolf Hitler halte und ob viele meiner Freunde Nationalsozialisten seien, suche ich das Weite.Ich verstehe zwar auch nicht, warum man Stolz für ein Land empfinden sollte, in dem man selbst als Arzt in einem Plattenbau leben muss und in dem die Regierung eigentlich nur enttäuscht, aber wenn diese Jungen so empfinden, dann ist das eben so. Unsere Ausflüge in die Innenstadt haben mir nur noch mehr die extremen Unterschiede zwischen Arm und Reich in Bulgarien näher gebracht und daher kann ich die Sightseeingtour durch Sofia auch nicht wirklich genießen. In mir staut sich nur Enttäuschung und Mitleid für dieses Land auf mit seinen größtenteils sehr freundlichen Menschen, jedoch auch frustrierten Jugendlichen, die sich Straßenkämpfe liefern und den Drogen verfallen, weil sie keine Hoffnung haben. Wenn Eva studieren will, muss sie noch viel Geld verdienen, sie kann nicht einfach in den Sommerferien in den Urlaub fahren, da führt sie Hunde aus, putzt in der Nachbarschaft und trägt Zeitung aus. Natürlich gibt es das auch in Deutschland, aber es macht nicht die Mehrheit der Bevölkerung aus. In einem bulgarischen Dorf, das wir besuchen, sind die Umtände noch viel extremer. Bedürftige Strom- und Wasserleitungen, keine Busanbindungen, trockene Landschaft und kleine Häuser, aus denen traurige, alte Menschen gucken. Ihre Kinder sind wohl in die Stadt gezogen, dort ist die Jobsituation besser.
Mich deprimiert das alles sehr, wahrscheinlich, weil es mir einfach fremd ist. Trotzdem will ich noch nicht weg, auch wenn morgen die Abfahrt ist. Ich würde gerne helfen, aber wie soll ich so etwas anstellen? Ist das nicht die Aufgabe der Regierung? Sollte sich Europa nicht eher mit so etwas beschäftigen? Den Leuten zum Fortschritt verhelfen? Soziale und finanzielle Unterstützung für Familien bieten? Hätte ich Afrika besucht oder Südostasien, wäre ich mit der Erwartung dorthin gekommen, dass die Armut dort herrscht, weil es durch die Medien in der Welt verbreitet wird. Doch, dass die Situation in Europa immer noch so fatal ist, hätte ich nicht gedacht. Man muss einfach etwas für den Fortschritt in Osteuropa tun und das bedeutet nicht, dass man McDonald's baut oder riesige Einkaufszentren, denn bulgarische Einwohner werden sich dort nichts leisten können, auch wenn ein paar Arbeitsplätze geschaffen werden. Investitionen in die Wohnanlagen, Schulen, Kindergärten, da sollte man beginnen. Es kann doch nicht sein, dass ich hier in Deutschland alle Möglichkeite habe, die Welt zu entdecken und zu tun, was ich mir wünsche und Eva, ein intelligentes, fröhliches Mädchen, hat diese Möglichkeiten nicht. Wir sind eine Union, wir sollten füreinander kämpfen und gleiche Chance für jeden ermöglichen. Ich kam mir in Bulgarien fremd vor, weil ich mich eingesperrt gefühlt habe. Es lag nicht an den Menschen, auch wenn es kulturelle oder auch politische Unterschiede gibt. Denn im Grunde genommen, fühlte ich mich in meiner Gastfamilie wohl und ich bereue auch nicht diese Reise angetreten zu haben, denn dadurch habe ich Erkenntnis, Weltoffenheit und vor allem Dankbarkeit erfahren. Jeder Deutsche sollte diese Situation sehen und erkennen, wie gut wir es haben, wie frei wir sind. Würden die bulgarischen Kinder jetzt dieselben Chancen auf Freiheit kriegen, wie wir sie haben, sie wären dankbar.