Ein schönes Haus
Europa ist ein sehr schönes Haus. Die Zimmer sind groß und gemütlich eingerichtet und selbst im Winter bleibt es behaglich warm. Auch die Mitbewohner sind sehr nett- selbst wenn wir nicht immer die gleiche Sprache sprechen. Europa ist ein Erfolgsmodell. Doch ich zweifele. Nicht nur an unserem Umgang mit Fremden- sondern auch daran, was das über unsere Freundschaft und uns selbst aussagt.
Wir haben allen Grund uns zu freuen, denn Europa ist das geworden, was viele Menschen vor uns nie hatten. Aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges spross eine Idee. Es war die Idee, eine Vision, vielmehr ein Traum von einem vereinigten Europa des Friedens. Aus der anfänglichen Wirtschaftsgemeinschaft wurde eine Union, die bis heute für ein friedliches Miteinander in Freiheit und Freundschaft steht. Gerade im Angesicht der aktuellen Kriege in der Ukraine, in Israel oder im Irak kann man diese Tatsache gar nicht hoch genug schätzen.
Europa ist einzigartig; Europa ist mehr als ein Kontinent oder ein Staatenbund; Europa ist für mich eine Heimat. Nicht umsonst wird in diesem Zusammenhang oft vom europäischen Haus gesprochen. Ein Haus beherbergt eine Gemeinschaft, eine Familie, die von gemeinsamen Erfolgen und Misserfolgen, gemeinsamen Zielen und Werten, gemeinsamer Vergangenheit und Zukunft zusammengehalten wird. Und wie in jeder guten Familie gibt es auch Probleme und Unterschiede. Selbstverständlich herrscht ein nicht enden wollender Streit über das Taschengeld aus Fördergeldern oder über die Rechte und Pflichten der einzelnen Mitbewohner, die sich durch einen nicht enden wollenden Strom aus elterlichen Verordnungen immer wieder ändern. Genauso ist es vollkommen verständlich, dass sich einige Mitglieder hin und wieder in einer pubertären Phase der Euro- Skepsis befinden und sich dann durch besonders renitentes Verhalten auszeichnen. Soweit so gut, denn auch wenn schon mal Türen knallen und der ein oder andere Mitbewohner im Streit erklärt, er wolle nun ein für alle Mal ausziehen - bis zum Abendessen haben sich alle Parteien in der Regel wieder vertragen. Das europäische Haus ist ein sehr schönes Haus, in dem ich sehr gerne lebe. Eigentlich muss sich hier also niemand fremd fühlen, oder? Gibt es auf der Welt ein vergleichbar großes Haus, in dem es genauso viel Offenheit und Toleranz gibt? Gibt es auf der Welt ein vergleichbar großes Haus, in dem Kinder behüteter aufwachsen können? Wir haben allen Grund uns zu freuen, denn Europa ist das geworden, was viele Menschen nicht haben. Nicht umsonst liegen vor unserem Gartenzaun 23.000 Leichen.
Es ist selbstverständlich einem Freund zu helfen. Denn das ist es doch, was Freundschaft ausmacht: Das bedingungslose Vertrauen und die Bereitschaft, jederzeit alles stehen und liegen zu lassen, um seinem Freund mit all seinen Kräften zu helfen - er würde schließlich genau das gleiche für einen selbst machen. Aber wie sieht die Sache bei einem Fremden aus? Wie sieht die Sache bei einem Mittellosen und ganz und gar Fremdartigen aus, den ich doch gar nicht kenne, der mich nicht versteht, den ich nicht verstehe? Ich als Europäer habe eigentlich kein Problem, diese Frage für mich zu beantworten. Wenn ein Mensch Hilfe braucht, so ist es ein Gebot der Menschlichkeit, dass alles nur Erdenkliche getan wird um ihm zu helfen. Das ist eine Selbstverständlichkeit- eigentlich. Denn in Wahrheit habe ich als Europäer ganz gewaltige Probleme, diese Frage zu beantworten. Nicht etwa weil ich die Antwort nicht kenne. Nein, ganz im Gegenteil. Mein Problem besteht darin, dass meine Antwort so überhaupt nichts mit der Realität zu tun hat- sowohl was Hilfe unter Freunden, als auch Hilfe an Fremde angeht. Das ist der Punkt, an dem ich mich im europäischen Haus fremd fühle.
Nach neusten Schätzungen sind seit dem Jahr 2000 insgesamt 23.000 Menschen auf ihrer Flucht nach Europa gestorben. Und jeden Tag werden es mehr. Seit Jahresbeginn sind bereits 100.000 Menschen über den Seeweg in Italien angekommen - die Behörden und die Auffanglager sind hoffnungslos überfordert. Soweit die Fakten. Ich frage mich:
Haben wir nicht etwas mehr Geld übrig, um den Flüchtlingen wenigstens ein menschenwürdiges Leben in den Auffanglagern zu bieten? Anscheinend nicht. Wir feiern stolz das Ende der Euro Krise, doch ein kleiner Beitrag für überfüllte Flüchtlingslager scheint dem gar so reichen Europa nicht zumutbar zu sein. Immerhin, die 90 Millionen Euro für die Grenzschutzagentur Frontex waren es.
Haben wir nicht ein wenig mehr Zeit, um uns mit der Flüchtlingsproblematik auseinanderzusetzten? Anscheinend nicht. Lasst uns lieber unverbindliche Äußerungen machen, dass sich endlich etwas „ändern müsse“. Das ist viel bequemer als tatsächlich etwas zu unternehmen, was den Flüchtlingen, Gott bewahre, wirklich helfen könnte. Außerdem gibt es ja noch so viel anderes zu tun - schließlich muss ein Freihandelsabkommen verabschiedet werden, nicht wahr?
Haben wir nicht etwas mehr Solidarität mit den Ländern, in denen die meisten Flüchtlinge ankommen? Anscheinend nicht. Lieber streiten wir uns darüber und lassen ganz nebenbei Italien, Malta und andere Mittelmeerstaaten alleine mit den Flüchtlingsströmen. Sieht so die Freundschaft zwischen den Ländern Europas aus? Ein Freund zu sein ist einfach, wenn alles gut läuft. Ein Freund zu sein ist schwierig, wenn in schweren Zeiten bewiesen werden muss, dass man sich zu Recht als solcher bezeichnet hat. Europa; in guten wie in schlechten Zeiten - ist es nicht so?
Haben wir nicht etwas mehr Offenheit und Gastfreundschaft für die über 300.000 Menschen, die im vergangenen Jahr einen Asylantrag in einem EU - Land gestellt haben? Anscheinend nicht. Lieber umgeben wir uns mit einer illustren Riege aus sicheren Herkunftsstaaten.
Haben wir nicht etwas mehr Menschlichkeit? Anscheinend nicht. Anscheinend ist die Gier nach Geld größer als ich gedacht hätte. Anscheinend ist die Angst, sich mit dem Fremden und Unbequemen zu beschäftigen, größer als ich gedacht hätte. Anscheinend ist der Weg, den Europa noch gehen muss, weiter als ich gedacht hätte.
Flüchtlinge sind kein Problem, sie sind unsere Verantwortung. Flüchtlinge sind Fremde, doch wir geben ihnen keine Gelegenheit, dies zu ändern.
Wir sind wieder im europäischen Haus. An der Wand über dem Kamin hängt der Friedensnobelpreis. Es ist ein sehr schönes Haus und wir haben allen Grund uns zu freuen.
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