Nachhilfe in Freiheit
Es war ein regnerischer Nachmittag. Etwas brachte E. dazu an einer dieser abgelegenen Bushaltestellen auszusteigen und sich in ein ehemaliges Arbeitslager zu begeben. Sie wollte die verlassene und lediglich mit Stacheldraht umzäunte Gedenkstätte einmal aus der Nähe betrachten.
Vor ihr erstreckte sich eine skurrile Landschaft – ein dicht bewachsenes, unwegsames Tal mit einer grotesken Konstruktion aus Metall in der Mitte. Der befremdliche Trakt sah aus der Nähe abstoßend aus: spiralförmige Treppen, die ins Nichts führen, labyrinthische Gänge... Fasziniert und angewidert zugleich erkundete sie das vernachlässigte Gelände. Wie konnten die nur so etwas bauen?
Sie war gerade dabei umzukehren, als ein plötzliches „Hallo“ sie aufhorchen ließ.
Und ich dachte, ich wäre allein hier! Sie drehte sich auf der Ferse um und sah einen jungen Mann in ihrem Alter. Er trug eine rote Bomberjacke, seine Hautfarbe war dunkel. Eigentlich wollte sie die Bushaltestelle noch rechtzeitig erreichen, um den Rückweg nicht im Dunkeln zurücklegen zu müssen. Am Besten einfach gleich weiter laufen. Sie schaute nur noch kurz in die grünen Augen. Der Junge wirkte entspannt und sympathisch, sie antwortete also: „Hallo“ und blieb doch stehen.
Im Laufe des Gesprächs spürte sie eine angenehme Ruhe, ein warmes Gefühl im Bauch. Sie streifte mit dem Blick über das Tal, das vor kurzem so trostlos erschien. Die Pflanzen umgab ein leuchtendes Aura, die Gegend protzte nur so vor Lebendigkeit. Dieser Junge hat was, keine Frage... bei ihm erscheint die Welt anders. Viele Fragen brannten E. auf der Zunge. Wer ist er? Wohnt er hier?
Es stellte sich heraus, dass er niemals zur Schule gegangen ist und weder lesen noch schreiben konnte.
"Lass uns gleich mit dem Lesen anfangen!" schlug E. spontan vor und holte eine alte Zeitung heraus. Der Junge freute sich über den Unterricht, machte aber nach jedem gelesenen Satz kurz Pause, um den Inhalt zu kommentieren. Seine Bemerkungen offenbarten eine originelle Lebensphilosophie. E. staunte über einige der lebensklugen Ansichten.
Wie ungewöhnlich! Er lebt an einem der ungemütlichsten Orte überhaupt, scheint aber wohlbehalten zu sein. Warum wirkt er so losgelöst und... frei?
Sie erfuhr, dass die Gesellschaft ihn mehrmals in Schubladen stecken wollte. Sein Klan funktioniere nach bestimmten Regeln und ließ dem jungen Mann oft keine Wahl. Mit 15 beschloss er also den alleinigen Weg zu gehen. Von da ab musste er ohne Hilfe zurechtkommen. Er gehörte nur noch sich selbst. Doch ohne einen Ausweis oder Ausbildung gab es auch keine Arbeit. So schlug er sich als Straßenmusiker durch.
Es wurde dunkel und kalt. Der junge Mann beschloss E. seine momentane Bleibe zu zeigen. Erst jetzt wurde sie auf eine armselige Hütte aufmerksam. Wie kann man hier nur wohnen? Im Inneren sah es wider Erwarten gepflegt aus. Das Wenige was er hatte war entweder ordentlich aufgestellt oder liebevoll zusammengefaltet. Er kramte eine frisch gewaschene Jacke für sie aus und griff nach seiner Gitarre. Das alte, mit Zeitungsfetzen gefüllte Ding fiel fast auseinander.
E.s Herz füllte sich allmählich mit einer unerklärlichen Sehnsucht. Sie lehnte sich mit dem Rücken an der Wand und schloß die Augen. Die lautstarke Stimme des Jungen brachte das ganze Tal zum Beben. Seine herzzerreißenden Roma-Lieder erfüllten bald jedes Quadratzentimeter der skurillen Landschaft, alles um sie herum tanzte. E. wurde sich der Einmaligkeit des Augenblicks bewusst. So fühlt sich also Freiheit an!
Die Zeit verging wie im Flug. Jetzt musste sie laufen, um den letzten Bus zu erreichen. Es machte ihr nichts mehr aus, dass es dunkel war. Vieles spielte keine Rolle mehr, auch die Tränen auf den Wangen.
Werde ich DAS jemals wieder erleben?
Tage später wurde E. von einer Idee heimgesucht. Sie stieg wieder auf der gleichen abgelegenen Haltestelle aus. Er will kein Essen, keine Kleidung, oder Geld von mir. Gut! Ich werde also eine Spendenaktion in Deutschland ausrufen und ihm eine nagelneue Gitarre besorgen! Dachte sie fieberhaft nach und lief direkt zur Hütte, um den Jungen mit ihren Neuigkeiten zu überraschen.
Doch der Schuppen war leer. Alles war leergeräumt, man könnte meinen, es gab dort nie jemanden.
Er ist also weitergezogen.. oder war das alles nur ein Traum?