Marius
Ich möchte mit dir über alle Grenzen dieser Welt spazieren. Und sie eliminieren.
Wenn ich anderen von dir erzähle, erscheint es vielleicht logisch, erstmal aufzuzählen, was du alles nicht kannst. Du kannst nicht laufen, du kannst nicht sprechen, du kannst nicht alleine essen und trinken. Dabei habe ich in den zehn Monaten mit dir vor allem eins gelernt: dass es darauf überhaupt nicht ankommt!
Denn du kannst: mir lächelnd zuwinken, deiner Angebeteten Kusshände zuwerfen, mir von deiner Traumhochzeit erzählen, bei UNO gewinnen, die Knöpfe im Fahrstuhl drücken, mehr als zwei Teller Griesbrei zum Frühstück verspeisen, mir im Spiegel die Zunge rausstrecken, Spaziergänge genießen und Enten erschrecken. Du bist der weltbeste Puzzler und Legoturmbauer. Und braucht man denn mehr?
Wir sind oft draußen gewesen und ich habe dich Runde für Runde um den künstlichen See geschoben. Du hast jeden Spaziergänger, der uns entgegen gekommen ist, freundlich gegrüßt. Ganz egal ob er alt war oder jung, dick oder dünn, klein oder groß, attraktiv oder nicht. Erwidert wurde auf deinen Gruß meist nur ein mitleidiger oder abfälliger Blick. Für dich aber war jeder Mensch gleich.
Seit ich dich mit lauter Tränen auf den Wangen das letzte Mal umarmt habe, du mir das letzte Mal verschmitzt zugelächelt hast, mit deiner Zahnlücke, und der Bus ein letztes Mal aus der holprigen Einfahrt gefahren ist, seitdem ich wieder in Deutschland bin, bin ich ein politisch korrekter Spießer geworden. Ich kann nicht verstehen, warum Worte wie „behindert“ oder „Spast“ hier als gängige Beleidigungen gelten. „Behindert ist kein Schimpfwort!“ ist nun quasi mein neuer Lieblingssatz. Gerne erkläre ich diesen meinem Gegenüber in größter Ausführlichkeit, sodass dieser im besten Fall auch bald vor politischer Korrektheit strotzt. Mittlerweile rollen meine Freunde schon nur noch genervt mit den Augen.
Erst vor kurzem hat mich jemand gefragt, was ich mir mitgenommen habe von meinem Freiwilligendienst. Lange noch habe ich darüber nachgedacht. Jetzt weiß ich: viele Wünsche habe ich mir mitgenommen. Ich wünsche mir vor allem Grenzenlosigkeit. Keine Grenzen zwischen dir und mir, keine Ausgrenzung. Nirgends. Wir sind alle gleich gemacht, wir sind alle Menschen. Das habe ich von dir gelernt und dafür danke ich dir.
Ich schiebe dich gern noch etliche Stunden umher, dafür hilfst du mir dann beim puzzeln. Deal?
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