Fluss der Geschichte
Am schönsten ist es in Prag vielleicht in den frühen Morgenstunden, wenn es zu dämmern beginnt und sich die Sonne ankündigt im bläulichen Schimmer des Himmels. Die Moldau-Brücken hat man um diese Zeit fast für sich alleine - selbst auf der Karlsbrücke, tagsüber erbebend unter den Schritten der Touristenscharen, findet man Ruhe.
Am schönsten ist es in Prag vielleicht in den frühen Morgenstunden, wenn es zu dämmern beginnt und sich die Sonne ankündigt im bläulichen Schimmer des Himmels. Die Moldau-Brücken hat man um diese Zeit fast für sich alleine - selbst auf der Karlsbrücke, tagsüber erbebend unter den Schritten der Touristenscharen, findet man Ruhe.
Am Geländer lehnend, kann man herab blicken auf den stillen Fluss, der gemächlich und ohne Hast unter einem her fließt in Richtung Elbe. Er bringt Erlebnisse mit aus dem Süden, aus dem Böhmerwald, aus Lipno und Budweis, wo das bekannte Bier gebraut wird, und saugt neue auf in Prag, der Stadt mit der reichsten Geschichte des Landes. Es sind Geschichten von kultureller Vielfalt und städtischer Avantgarde, aber auch von Armut und Unterdrückung.
Viele große Auseinandersetzungen begannen in Prag, und sie hatten meist mit dem Glauben zu tun, der doch eigentlich persönlich ist und nicht politisch. Erst waren es die Hussiten, die gegen die Unterdrückung kämpften. Als ihr Glaubensführer Jan Hus beim Konstanzer Konzil verbrannt wurde, gingen seine Adepten in Prag auf die Barrikaden. Die Folge war der erste Prager Fenstersturz, bei dem die Ratsherren aus dem Fenster geworfen wurden, und ein blutiger Krieg, der mehrere Jahre andauern sollte. Zwei Jahrhunderte später waren es böhmische Protestanten, die ihren Glauben verfochten und dabei zwei kaiserliche Statthalter und einen Schreiber aus dem Fenster stürzten. Die Folge war der Dreißigjährige Krieg, der halb Europa verwüstete. 1848 missglückte ein Aufstand, und der Frühling 1968 scheiterte an der dumpfen Übermacht der militärischen Gewalt. Viel Blut ist in die Moldau geflossen im Laufe der Zeit, Blut und Tränen des Leidens gegenüber der Ungerechtigkeit. Der Tiefpunkt war die Besetzung durch die Deutschen, als Unmenschlichkeit und Größenwahn das Land okkupierten. Eigentlich müsste die Moldau schwarz sein von der Pest der Erlebnisse, dem Elend der Geschichte.
Merkwürdig, dass sie es dennoch versteht, so schön zu sein an diesem Morgen, so sanft und freundlich. Schlafend treiben Schwäne auf dem Wasser. Träume von Freiheit und Frieden. Die Häuser der Altstadt ruhen am Ufer des Flusses, ohne den Prag nicht Prag wäre, und es ist, als ob sie sich die Hand gäben. Über den Fluss legt sich ein seichter Nebel - wie romantisch! - doch leider ist es kein Wasser, sondern der Smog aus der Stadt, in der noch immer mit Braunkohle geheizt wird. Auf der Höhe thront der Hradschin, auch ihn umgeben Nebelschwaden, und der Veitsdom hebt markant seine Türme in die Luft, als wolle er die Stadt beschützen.
Die Luft ist warm, so dass man nicht frieren muss, sondern ruhig stehen bleiben und auf den Morgen warten kann. Die Straßen sind leer, nur vereinzelt trotten Nachtschwärmer nach Hause, und Frühaufsteher führen ihren Hund aus. Die Nacht ist noch nicht vorbei, und der Tag ist noch nicht angebrochen. Es ist nicht wirklich dunkel und nicht hell, weder gestern noch heute, weder jetzt noch gleich, sondern irgendwo dazwischen.
Es ist ein merkwürdiger Moment, der eigentlich nicht sein dürfte, ein Moment, in dem alles zwischen dem Geschehen liegt, und es scheint, als bliebe die Zeit für einen Augenblick stehen. Es ist ein stiller Höhepunkt, so wie ein Ball kurz in der Luft anhält, bevor er wieder nach unten fällt. Eigentlich bleibt der Ball gar nicht stehen, aber wir sind nicht schnell genug, um ihn zu erwischen. Gerade darum sind wir von diesem Moment so fasziniert, wir können ihn nicht verstehen, sondern nur fühlen. Ganz Tschechien muss nach dem Ende des Sozialismus in einem solchen Moment verharrt haben.
Nuance für Nuance wird es heller, immer mehr Details sind zu erkennen, der Hradschin glänzt schon leicht rötlich unter den schimmernden Wolken. Noch immer fließt die Moldau ruhig dahin - die Stadt hält für einen Augenblick die Luft an und nimmt zugleich ihren stärksten, befreienden Atemzug.
Dann beginnt plötzlich das Leben, die Sonne erhebt sich über den Bergwipfel. Nun ist es richtig hell, und plötzlich fällt es auf, dass die Vögel zwitschern. Der dunkle, graue Fluss glitzert im hellen Licht des jungen Morgens, und die ersten Passanten treten auf die Straße. Bald fährt auch die erste Tram, kreischt eilig über die Gleise. Der Tag hat uns wieder, und Prag steht noch immer. Erneut ein Tag, an dem Geschichte geschrieben wird. Und in der Nacht wird es die Moldau der Elbe erzählen.
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