Ein Mann ohne Alter
Sind 2 Generationen und 50 Jahre Unterschied, obendrein 1772 km Entvernung zu groß um Freundschaften zu schließen?
„Also morgen früh um 8?“ schrieb ihm mein Freund um sicher zu gehen. Keine Antwort, seine Telefonnummer hatten wir leider nicht. Wie abgemacht waren wir um 8 Uhr pünktlich am Parkplatz von Beaucouzé eingetroffen und warteten ein bisschen angespannt. Wir haben schon vorher gespürt, dass irgendetwas nicht stimmte, dazu auch noch dieses Wetter, das man von Anfang Dezember gut kennt, es war noch dunkel, außerdem lag ein dicker Nebel über der Landschaft und kurze Zeit später fing es an zu nieseln. Um halb 9, die letzten dreißig Minuten schienen uns wie eine Ewigkeit, war von Elie immer noch nichts zu sehen. Das sah ihm gar nicht ähnlich; auf ihn ist immer Verlass. Als wir umkehren wollten, hielt plötzlich ein Auto vor uns an. Elies natürlich. Auf dem Gesicht von dem 74 Jahre alten Franzosen war sein ewiges Strahlen zu sehen, Elie lachte fröhlich und auf unsere besorgte Frage - ob es ihm gut ginge - antworte er:
- Oui, ça va. – typisch französisch. – On y va?
Und wir fuhren völlig perplex los, unser Reiseziel: der Mont-Saint-Michel!
Meine Geschichte fängt eigentlich an der Universität Belle Beille von der im Westen Frankreichs liegenden Stadt Angers an. Ich studiere Französisch in Budapest und bin im dritten Jahrgang. Im Rahmen vom Erasmus+ Programm haben wir uns mit meinem Freund nach Frankreich beworben, um da unsere Studien fortzusetzen. An einer Pinnwand der Fakultät für Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften entdeckten wir eine ungarisch geschriebene Annonce. Es stand darin, dass jemand ungarische Studenten suche, um die Sprache zu üben, denn er/sie – im Ungarischen gibt es keine Einung – habe zwei Söhne, die in Ungarn lebten, weiterhin lerne er seit vier Jahren Ungarisch. Wir waren uns nicht sicher, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Nicht einmal nach dem wir als Unterschrift „Elie“ gelesen haben.
Als wir Elie Ende September endlich trafen, stellte sich heraus, dass es sich um einen netten und überaus höflichen älteren Mann handelte, der etwa im gleichen Alter war wie meine Großeltern. Wir erkannten ihn sofort an der einfallsreich an seinen Pullover angehefteten ungarischen Kokarde. Er lächelte breit und freundlich und fing sogleich an, sich auf Ungarisch vorzustellen. Eine Stunde lang hörte er gar nicht auf, er genoss es, endlich wieder auf Ungarisch kommunizieren zu können. Er sprach mit Stolz über seine Familie, seine Söhne und seine Enkelkinder, die er so selten sah, zu denen er jedoch eine starke Beziehung hatte. Elie verabschiedete sich mit einem generösen Angebot: er würde uns gerne einige Sehenswürdigkeiten der Region vorstellen.
Demzufolge lernten wir mit ihm jeden Mittwoch; er Ungarisch, wir Französisch. Er hatte einen erstaunlich großen Wortschatz, sein Fleiß war ebenso beneidenswert. An den Wochenenden machte Elie mit uns Ausflüge zu Schlössern, wir fuhren gemeinsam zum Ozean oder zum „Meer“ – wie die Franzosen es bezeichnen. Während der Fahrten redeten wir abwechselnd in beiden Sprachen. Er brachte uns sowohl populäre Ausdrücke als auch seltene und alte Redewendungen bei. Er war immer fröhlich, frisch im Kopf, außerdem sehr großzügig. Er machte dauernd Witze, scherzte mit uns, wir amüsierten uns köstlich. Er stellte viele Fragen über ungarische Sitten und Bräuche. Seine Ausstrahlung und seine Persönlichkeit machten auf mich einen großen Eindruck. Elie schoss viele Fotos, so haben wir nicht nur im Herzen viele Erinnerungen behalten. Im Dezember unternahmen wir eine letzte Tour, die zugleich am unvergesslichsten war. Nicht nur, weil er an dem am Anfang meiner Geschichte genannten Morgen eine halbe Stunde zu spät kam. Es ging zum Mont-Saint-Michel, der zweitbeliebtesten Touristenattraktion Frankreichs. Ich glaube, es spricht für sich selbst, es war wunderschön.
Der Abschied fiel nicht leicht. Jedoch können wir mit ihm und seiner Frau in Kontakt bleiben, denn sie kommen öfter nach Ungarn. Ich könnte kurzum sagen, dass wir in diesem Semester französische Großeltern gewonnen haben.