11. Platz: La Torrera
"Verliebt in Europa" in mehr als einem Sinne. Die 23-jährige Anna schafft es, in ihrer Kurzgeschichte eine Obsession einzufangen, das Verlangen nach Schönheit und grenzenloser Liebe.
Sanft streicht meine Hand über ihre so junge, pastellene Brust. In weichen Wellen fließt ihr kaskadenhaftes Haar die schmalen Schultern hinab, die, scheint es, noch kein vom Leben auferlegtes Leid zu tragen haben. Und blicke ich in ihre Augen, jagt mir die edle Verschmelzung eines Stolzes, wie er nur der Jugend entspringt, und unglaublicher Verletzlichkeit Schauer über den Rücken. Nichts Anderes will ich mehr als sie betrachten. Welcher Tätigkeit könnte ich noch alltagsunterworfen nachgehen, ohne dass sich allenthalben diese göttliche Schönheit vor mein Bild der Welt schübe? Wie hinreißend ihre schmalen Fesseln sich an den mächtigen Rumpf des Stieres pressen, als befürchte sie, jeden Augenblick zu fallen. Ein schwüler, fast blumiger Hauch, fühle ich, geht von jenem ungleichen Paar aus, eine subtile Erotik beinahe. Mein Bleistift, teuerste Fabrikation natürlich, scheint der Wiedergabe dieser Pracht kaum gewachsen. Ich schraffiere. Mir ist, als legte ich die Besessenheit von ihr mit jedem Bogen Zeichenpapiers, dem ich den Stempel ihres Gesichtes aufdrücke, ein wenig ab, als fiele mit jeder Zeichnung ein winziger Kiesel des Berges, der sie ist, von meinen Schultern zu Boden. Ich suche die Perfektion; sollte es gelingen, ihre Gesichtszüge wiederzugeben, wie sie mir hier und jetzt in Vollkommenheit entgegenstrahlen, werde ich frei sein.
Genau noch kann ich mich an unsere erste Begegnung erinnern. Mit meinen Studenten besuchte ich, um das Aktzeichnen an möglichst wehrlosen Modellen zu erproben, den Skulpturenflügel der Staatlichen Kunsthalle zu L. . Von weitem schon, leuchtete mir die elfenbeinfarbene Gestalt am Ende des Raumes entgegen, die mich wie magisch anzog. Unter ihrem Sockel war ein Schildchen angebracht. „Europa und der Stier“ stand dort in schwarzen Lettern auf Gold „Gianni Morettoni 1672“. Als ich nach einer halben Stunde des Staunens immer noch reglos und mit weit aufgerissenem Mund, aus dem der Speichel tropfte, vor ihr stand, begannen meine Studenten unruhig zu werden. Die Mutigeren kicherten, während die Unterwürfigen mir sanft den Arm streichelten. „Frau Dr. S., sollen wir denn dann jetzt irgendwas zeichnen, oder war es das für heute?“„Gehen Sie nur!“, lallte ich wie trunken und sie folgten meinem Befehl. Noch bis in die Nacht stand ich vor ihr, der neuen Liebe meines Lebens, bis der Museumswächter mich zum Ausgang zerrte. „Wir schließen.“ Daheim vertrieb ich mir die Zeit bis zum Morgengrauen damit, sie kennen zu lernen aus der Ferne. Ich notierte: Europa; Tochter des Phönizierkönigs Agenor; Zeus liebte sie, verwandelte sich in einen Stier, entführte sie nach Kreta; drei Kinder.
Jeden Tag sprach ich nun wie ein um Erhörung bettelnder Romeo bei ihr vor. Meine vorzeitige Emeritierung wurde gemeinhin akzeptiert (die Nerven), Kinder hatte ich keine, einen Mann auch nicht. Mein Leben war vollkommen. Stapelweise fluteten die Zeichnungen des Mädchens auf dem Stier meine Maisonnettewohnung in bester Lage. Verließ ich des Nachts zum Verrichten der nötigsten Notdurft das Bett, rutschte ich regelmäßig auf den Werken des Vortages aus. Meine eigentlich stattliche Pension reichte kaum für all die Blöcke und Bleistifte, die zu kaufen meine Obsession mich zwang. Öffnete ich des Morgens den Kühlschrank, starrten mir drei Wochen alte Käserinden mit Schimmelpatina entgegen; sonst: nichts. Inzwischen war ich derart mager, dass ich, wäre die altersfaltige Haut nicht gewesen, die meinen Körper umschlackerte, problemlos das Cover der Vogue hätte zieren können.
„Guten Tag, Frau Professorin.“ Alle Wächter des Museums kannten mich und stießen sich hinter meinem Rücken in die Rippen. „Schau dir die arme Irre an.“ Aber ich war nicht verrückt, ich liebte. (Natürlich könnte man die Liebe grundsätzlich zu den Geisteskrankheiten zählen, aber eigentlich will ich mich dazu nicht hinreißen lassen.) Das leise Klackern genießend, das meine sündhaft teuren Stiefeletten dem Laminat der Kunsthalle entlockten, schlenderte ich ihrem Zimmer entgegen. Wie jeden Tag ließ ich mich auf dem Stuhl, der Europa am nächsten stand, nieder und begann mein Werk. Im Traum hätte ich sie zeichnen können, diese Nase, diese Augen, diese Brüste. Und doch war jede Zeichnung nicht sie, blieb sie jede Nacht aufs Neue hier, während ich in das Exil meiner Wohnung vertrieben wurde. Blatt um Blatt füllte sich mit ihren Zügen. Gruppen giggelnder Photoapparatasiaten umlagerten mich, betrachteten die Auswüchse meiner Manie, boten mir dreistellige Summen für meine Schöpfungen. Ich lehnte ab.
Auf einer Blumenwiese liegend betrachte ich den Himmel; lila Grashalme umwogen mich, ein Vogel tiriliert. Jene Ruhe wird mit einem Schlag ausgelöscht, als aus einem nahen Wald Europa galoppiert. Auf dem Rücken des Stieres thront sie wie eine Kriegerin, ihre Augen jedoch sind voller Furcht. „Hilfe, Frau Professorin“, ruft sie, „Hilfe! Sie werden mich zerschlagen, zerschlagen.“ Ich zucke in meinem Bett zusammen. Zerschlagen, zerschlagen, zerschlagen, zer, schla, gen, tick, tick, tick. Langsam öffne ich die Augen, die Uhr über meinem Bett zeigt sieben Uhr dreißig. Noch immer sind meine Adern erfüllt von jener fernen Ahnung, jener Angst sie zu verlieren.
Es war immer so traurig. Und auch nach all den Jahren im Polizeidienst war er noch nicht dazu in der Lage, einen nüchternen Blick zu bewahren, wenn die Einsamkeit, das Leid ihm entgegenstarrte. Das Einzige, was blieb, war, die Gesichtsmuskeln zu versteifen, die Zähne zusammenzubeißen und sich zu sagen: Mein Leben ist gut, mein Leben ist schön, das reicht. Die Nachbarn hatten ihn, alarmiert durch merkwürdig süßliche Geruchsschwaden, die sich im Treppenhaus ausbreiteten und mit jedem Tag widerwärtiger wurden, gerufen. Das Aufbrechen der Tür war schwierig. Und als er die Wohnung betrat (Maisonette, beste Lage), traf ihn fast der Schlag. Über und über waren die Wände mit Zeichnungen bedeckt. Was heißt, die Wände, auch der Boden. Knietief watete man durch das immer gleiche traurig-schöne Gesicht. Es gehörte einer jungen Frau. Einer Frau auf einem Stier. „War die Spanierin?“, fragte sein Kollege und räusperte sich. Das Stück stinkende Materie, das von der Zeichnerin geblieben war, lag eingebettet in weitere tausend Exemplare jenes einen Bildes. „Schlafmittel“ warf sein Kompagnon ein und hüstelte. „Na, wenigstens nichts Blutiges.“ Er war immer sehr positiv. Auf dem Tisch, dessen Holz wegen der unzähligen Büttenpapiere (Stier und Mädchen- natürlich), die sich auf ihm stapelten, kaum noch sichtbar war, lag eine aufgeschlagene Wochenzeitung. Zwei Monate war sie alt. „Ich raff echt nicht“, grunzte sein Kollege, „wie man sich freiwillig jede Woche so einen Batzen unnützen Wissens reinziehen kann.“ Das Feuilleton war aufgeschlagen. Den Kopf der Seite zierte das Bild einer Skulptur, nicht irgendeiner. „Wahnsinn“, ächzte sein Kollege. Sein Mund stand offen. „Wiedereröffnung der Staatlichen Kunsthalle wegen Asbestverseuchung bis auf weiteres verschoben.“