Die Wörter, die mir fehlten
Mit Weltwärts war ich für ein Jahr in Palästina. Vor vier Wochen bin ich zurückgekehrt, mit dem Kopf voll von neuen Witzen, bestätigten Clichés und fünf Wörtern für die Wüste.
Der Mensch, der mich dazu inspiriert hat Sprachen zu lernen, ist meine erste Klavierlehrerin, Frau Wittmann, oder einfach „Witti“. Die ersten 60 Jahre ihres Lebens hat sie nur auf einer einzigen Sprache gedacht, gesprochen, gefühlt und gelebt, nämlich auf Deutsch. Ein paar Jahre vor ihrer Pensionierung hat sie jedoch plötzlich beschlossen Isländisch zu lernen. Isländisch. Eine Sprache, die von kaum mehr als 300 000 Menschen gesprochen wird und aufgrund der Isoliertheit Islands mit kaum einer anderen Sprache verwand ist.
Als sie mir das erste mal davon erzählte dass sie jetzt ihre Freizeit damit verbringt isländische Vokabeln zu pauken hielt ich das für eine ziemliche Zeitverschwendung. Ich dachte mir: man lernt eine neue Sprache um sich mit mehr Leuten unterhalten kann oder Romane und Gedichte in der Originalsprache zu lesen. In der Schule wurde auch immer betont wie schön Fremdsprachenkenntnisse den Lebenslauf schmücken würden. Wieso dann ausgerechnet Isländisch? Eine Sprache, die weder ein großes literarisches Erbe noch viele Sprecher*innen hat? Das kam mir genauso nutzlos vor wie der Lateinunterricht in der Schule.
Vor fast jeder Klavierstunde hat sie mir mit leuchtenden Augen von ihrem neuen Hobby erzählt. Sie hat mir zum Beispiel erklärt, dass man im Isländischen Sätze bilden kann, die kein Substantiv haben. Ich habe mir so lange den Kopf darüber zerbrochen wie so etwas möglich sein kann. Man müsste dafür beim sprechen eine neue Perspektive einnehmen. Sie hat erzählt wie viele verschiedene Worte es für „Gebirge“ und „Regen“ gibt. Dinge, die wir gar nicht wahrnehmen, weil wir keine Worte haben, um überhaupt einen Gedanken über sie zu formen.
Sie hat mir vor allem gezeigt, dass jede*r, zu jedem Zeitpunkt im Leben damit anfangen kann eine neue Sprache zu lernen. Witti fühlt sich nach eigener Angabe mittlerweile in drei Sprachen „wohl“.
Die Sprache, in die ich mich ein paar Jahre später verliebt habe ist Arabisch. Um die Sprache zu lernen habe ich ein dieses Jahr ein FSJ in Palästina gemacht. Es hat lange gedauert, bis ich mich einigermaßen zurecht gefunden habe. Ich habe nicht das beste Gedächtnis, und Disziplin ist für mich auch immer so eine Sache. Am Anfang war ich oft frustriert darüber, dass ich mich nicht wirklich ausdrücken konnte. Ich fand es zum Beispiel sehr unbefriedigend, dass es auf Arabisch nicht das Wort „zu“ gibt, wie in „zu viel“. Stattdessen musste ich immer das Wort „sehr“ benutzen. „zu schnell“ und „sehr schnell“ sind für mich verschiedene Konzepte, und ich konnte nicht verstehen, wie man ohne das Wort „zu“ auskommen sollte.
Irgendwann ist mir klargeworden: Für jedes „zu“ gibt es ein Wort auf Arabisch, das ich noch lernen kann, hinter dem eine neue Idee steckt, über die ich noch nicht nachgedacht habe. Eine andere Art der Betrachtung, bei der der Fokus plötzlich auf einer Sache liegt, die mir vorher nebensächlich erschien. Unsere Ideen entstehen aus unseren Gedanken, und unsere Gedanken formen sich aus unseren Worten. Was gibt es besseres als mehr von ihnen zu lernen? Im Arabischen gibt es zum Beispiel mehrere Übersetzungen für „verlieren“. Es ist etwas anderes ob die Sache, die man verloren hat noch existiert oder nicht, oder ob der Verlust unwiderruflich ist, oder man die Sache wiederfinden kann. Oder das Wort „Welt“, für das es im Arabischen mindestens drei Übersetzungen gibt. „Dinya“ beschreibt die „irdische Welt“, während „Alam" auch alles Überirdische umfasst. Hinter den Begriffen stecken islamische Ideen, die ich noch nicht begreifen kann (und denen diese Beschreibung überhaupt nicht gerecht wird). Religiöse Begriffe, Komplimente, Sprichwörter und sogar Beleidigungen erzählen, glaube ich, mehr über Palästina und ihre Menschen als ein Geschichtsbuch. Das Cliché, dass Sprachen wie Schlüssel sind, hat sich für mich doch als wahr erwiesen. Ich fühle mich so als hätte ich in Palästina eine leicht andere Madeleine entdeckt. Als hätte ich eine neue Brille, mit der ich plötzlich mehr sehen kann!
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