DEUTSCHLAND | Der Blick des Nachbarn
Seit ich nach Saarbrücken gekommen bin, stehe ich wegen unseres Nachbarn vom gegenüberliegenden Fenster unter einem großen Druck. Immer wieder frage ich meine Mitbewohnerin: "Tanja, ist es normal hier, dass die Leute einander beobachten? Ist es ein Zeichen von Höflichkeit gegenüber meinem Nachbarn, wenn ich keine Gardinen am Fenster habe?
Seit ich nach Saarbrücken gekommen bin, stehe ich wegen unseres Nachbarn vom gegenüberliegenden Fenster unter einem großen Druck. Immer wieder frage ich meine Mitbewohnerin: "Tanja, ist es normal hier, dass die Leute einander beobachten? Ist es ein Zeichen von Höflichkeit gegenüber meinem Nachbarn, wenn ich keine Gardinen am Fenster habe?
Nimm zum Beispiel unseren Nachbarn vom gegenüberliegenden Fenster. Jedes Mal, wenn wir in der Küche sind, erscheint er zufällig auf der Terrasse! Er beobachtet uns schamlos. Er überwacht jede Bewegung, die wir machen. Es ist wie in einem Film, er ist der Regisseur und ich bin die Schauspielerin: alle meine Bewegungen werden sorgfältig studiert.“
Hin und wieder gibt mir Tanja die immer gleiche Antwort: "Tja, was wäre die Welt ohne unseren Nachbarn Klaus-Peter?!!"
Irgendwann habe ich angefangen, mir ebenfalls diese Frage zu stellen: Die Tage wären wahrscheinlich langweilig, wenn er nicht mehr meine katzengleichen Bewegungen zwischen den vier Küchenwänden beobachtete; meine Instantsuppen - so gewöhnlich ohne seine brennenden Augen, deren Blicke sich durch die Bäume und durch den Garten schneiden, um dann jedes Mal auf meinem Teller zu landen. Die Abende wären wahrscheinlich öde ohne seinen neugierigen Blick, mit dem er in unser Badezimmer späht, wenn wir unsere Zähne putzen.
Dieser Text wäre nichts ohne Klaus-Peters Eindringen in unser Heim und in unsere Gedanken entstanden. Ich nehme an - und glaube wirklich daran -, dass die gardinenlosen deutschen Fenster eben ein Teil der deutschen unverhüllenden Lebensart sind. Es ist ein Zeichen von Ehrlichkeit und Freundschaft: Du kannst, wann immer du willst, herausfinden, was hinter der Tür nebenan vor sich geht.
Ich bin überzeugt, dass ich mich während dieses Jahres in Deutschland an diese Gewohnheit gewöhnen werde.