Aufbruch dank 'Volt' - mehr Energie für Europa?
Rund drei Monate vor den Europawahlen präsentiert sich die pro-europäische Partei 'Volt' als Gegenstück zu Tendenzen britischer Abgrenzung und italienischer Null-Toleranz-Haltung. Wer sind die Köpfe hinter dem ehrgeizigen Projekt, das vielleicht sogar eine der letzten Bastionen gegen die europäische Scheidung sein könnte?
432 zu 202 Stimmen, Abkommen abgelehnt. Manchmal sagen Zahlen doch mehr aus als alle Versuche, mit Worten eine Erklärung zu finden auf die drängenden Fragen unserer Zeit. In welche Richtung bewegt sich die Europäische Union? Werden wir in 10 Jahren immer noch EU-Bürger sein? Gewiss war das erste Abstimmungsergebnis des britischen Parlaments über Theresa Mays Brexit-Pläne im Januar diesen Jahres ein deutliches Signal, wie zerrissen Großbritannien tatsächlich ist. Doch damit stehen die Briten nicht allein da. Tiefe Gräben zwischen der EU und ihren Bürgern, zwischen populistischen Regierungen und Brüssel, aber auch zwischen den Bürgern untereinander durchziehen den Kontinent von Madrid nach Bukarest, von Rom bis nach Kopenhagen.
Fast schon paradox erscheint die gegenwärtige europäische Tragödie: Da bescheinigt einerseits der französische Präsident Macron der EU wenige Wochen vor den zukunftsweisenden Europawahlen am Scheidepunkt zu stehen und unterstreicht, dass Europa seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie so wichtig, im Umkehrschluss aber auch noch nie in so großer Gefahr gewesen sei; auf der anderen Seite formiert sich immer offensichtlicher die auf Populismus und Xenophobie beruhende Achse zwischen Rom, Warschau und Budapest, deren erklärtes Ziel der politische Umsturz des Europas ist, wie wir es kennen (wer eine mögliche Vorstellung dieses Zukunftsszenarios haben möchte, soll bitte eben nur mal bei Google die Worte 'Orbán' und 'Helsinki-Komitee' eingeben). Also stärkere Zusammenarbeit oder doch Renationalisierung? Ist Großbritannien erst der Anfang, folgen noch der Italexit, Polexit oder Czexit mit all den bürokratischen Irrwegen, in denen sich aktuell die Briten verlaufen? Die Zeit rennt, am 29. März steht der planmäßige Austritt Großbritanniens aus der EU, nicht mal mehr drei Monate Zeit bis zu den Wahlen im Mai, um der populistischen Agitation á la Wilders und Le Pen entgegenzuwirken. Angesichts dieser zerreißenden Belastungsprobe kann man schon mal in Verzweiflung und Resignation versinken - wer sollte es einem übel nehmen - erreichen wird man letzten Endes damit trotzdem nichts.
"Let’s stop complaining and actually do something"
Ermüdet von den Diskussionen um das Geplänkel der europäischen Kleinstaaterei beschlossen am 29. März 2017 - ganz zufällig auf den Tag genau ein Jahr, nachdem Theresa May offiziell den britischen Austrittsprozess einleitete - drei junge Köpfe aus Italien, Deutschland und Frankreich nicht länger nur stumm zu registrieren, wie Populisten jenseits des Atlantiks und des Ärmelkanals das Projekt Europa gefährden. Kein Wunder, müssen Andrea Venzon, Damian Boeselager und Colombe Cahen-Salvador doch in ihren eigenen Ländern mit ansehen, wie Lega, AfD und Front National Hass und Feindbilder züchten. Jene Abwärtsspirale brachte schließlich den Stein ins Rollen; die erste paneuropäische Partei mit einem gemeinsamen, länderübergreifenden Programm zur Europawahl war geboren. Dass die Proeuropäer zunächst weder Startguthaben noch politische Erfahrungen besaßen, wirkte sich nicht negativ auf ihre Bewegung aus - die Euphorie vor allem unter den jüngeren, unentschlossenen (Erst)-Wählern breitete sich aus wie ein Lauffeuer, gegenwärtig 15.000 Unterstützer auf dem ganzen Kontinent verteilt zeugen davon.
"Heute kandidiert Volt für das Europäische Parlament, um neuen Schwung in die Politik zu bringen und das Europa aufzubauen, das wir alle brauchen (...) Volt wurde geschaffen, um mit neuer Energie die gemeinsamen Herausforderungen unserer Zeit zu lösen"
Auszug aus der Amsterdam-Deklaration, Volt-Programm für das EU-Parlament 2019-2024
Was erhofft man sich, in Zeiten der weit verbreiteten Skepsis gegenüber Brüssel und seinen Institutionen, unter den Bürgern zu erreichen? "Es fehlt jemand, der sagt: Ja, es läuft vieles schlecht, aber die Lösung ist Europa und nicht der Nationalstaat", schreibt so Cohen-Salvador in einer Kolumne für den 'Guardian'. Dabei sei man zwar proeuropäisch, keineswegs aber ein Unterstützer der derzeitigen EU. Nicht nur die Anhänger von 'Volt' werfen der EU fehlende demokratische Legitimation vor, tatsächlich bestehen Diskussionen hinsichtlich des fast alleinigen Initiativrechts der EU-Kommission bei der Rechtsetzung. Geht es nach 'Volt' und ihrem Amsterdamer Programm, so sollen aus diesen Gründen zukünftig die Präsidenten der EU-Institutionen vom Volk direkt gewählt werden können, als einzig direkt gewählte Institution muss auch das EU-Parlament jenes Initiativrecht im Gesetzgebungsverfahren erhalten. Hört man den Populisten um Salvini oder Le Pen genauer zu, so wären jene Reformen unabdingbar, entkräften sie doch deren Argumente von den 'europäischen Eliten, die über die Köpfe der Bürger hinweg entscheiden'.
Die Antwort für bestmögliche Transparenz im 'bürokratischen Urwald in Brüssel und Straßburg' sei daher mithilfe von verstärkter Bürgerbeteiligung zu finden; bedeutet im Endeffekt, den EU-Bürgern über digitale Plattformen oder Versammlungen Chancen zu eröffnen, an Gesetzes- oder Entscheidungsfindungen teilzuhaben - und gegebenfalls über den Sinn von Absurditäten wie dem gesetzlich festgelegten Krümmungsgrad von Gurken oder dem Geschmack der Pizza Margherita zu diskutieren.
"Hört man den Populisten um Salvini oder Le Pen genauer zu, so wären die Reformen von 'Volt' unabdingbar, entkräften sie doch deren Argumente von den 'europäischen Eliten, die über die Köpfe der Bürger hinweg entscheiden"
Wie Emmanuel Macron mit seinem Essay für ein geeintes Europa, der in den Tageszeitungen aller 28 europäischen Mitgliedsstaaten erschien, werben nun auch verstärkt Bürgerinitiativen wie 'Pulse of Europe' oder die vom ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis ins Leben gerufene Bewegung 'Democracy in Europe Movement 2025' für eine Rückbesinnung auf gemeinsame Werte und bilden zusammen mit 'Volt' eine echte Alternative zu den etablierten Parteien sowie den Rechtspopulisten.
Ohne Zweifel besitzen gerade jene progressiven Bewegungen ein nicht zu unterschätzendes Potenzial vor allem für die jungen EU-Bürger und stehen daher in der Verantwortung, auf die Bedeutsamkeit der anstehenden Wahlen aufmerksam zu machen. 'Volt' ist schon jetzt die größte europäische Jugendpartei, setzt sich aus rund 300 Stadt-Gruppen in ganz Europa zusammen, die sich treffen, um Ideen auszutauschen und Verbesserungsvorschläge zu diskutieren. Der Jugend gehört die Zukunft auf dem Kontinent, sie nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten und zu reformieren muss gleichzeitig als einmalige Chance, aber auch als verantwortungsvolle Aufgabe begriffen werden - erschreckende Zahlen wie die 37% Wahlbeteiligung unter den Studierenden vor fünf Jahren dürfen sich nicht wiederholen.
Und wieder einmal lässt sich feststellen, dass Zahlen manchmal doch viel mehr aussagen als alle Erklärungen es können. Selbstverständlich sei die EU eine gute Sache, da sind sich die meisten jungen Leute einig, ermögliche sie ja schließlich Reisefreiheit und vielfältige Programme über Erasmus. Doch wählen gehen - wem oder was gebe ich denn da überhaupt meine Stimme? Was geht mich die Wahl überhaupt an? Ahnungslosigkeit und Desinteresse sind im Endeffekt genauso gefährlich wie die europäischen Gegner in Rom und Budapest.
"Unsere Botschaft ist eine Botschaft der Hoffnung, des Mutes und der Solidarität. Sie zeigt allen Menschen, dass bestehende Unterschiede nicht zum Einsturz bringen werden, was unsere Eltern aufgebaut haben"
Auszug aus der Amsterdam-Deklaration, Volt-Programm für das EU-Parlament 2019-2024
Ob die jungen Proeuropäer ihre ehrgeizigen Ziele, in mindestens sieben EU-Ländern mindestens 25 Sitze zu erlangen, tatsächlich umsetzen und die 'alte EU' mit neuer Energie elektrifizieren können, wird sich Ende Mai zeigen. Doch unabhängig von ihrem Abschneiden haben sie mit zahlreichen Diskussionsforen schon jetzt den europäischen Gedanken wieder sicht- und hörbar werden lassen unter den jungen Europäern und damit - wissentlich oder nicht - Macrons abschließenden Ratschlag befolgt: "Wir dürfen nicht Schlafwandler sein in einem erschlafften Europa".
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