"Das ist Walter!" II
Eine Reise in die bosnische Multikulti-Hauptstadt Sarajevo ist mehr als nur ein normaler Städtetrip. Blüte des osmanischen Reiches, Mord an Franz Ferdinand, grausamer Inbegriff des Jugoslawienkrieges - an kaum einem anderen Ort in Europa verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart so wie hier. Bericht über die Rückkehr in meine neue zweite Heimat, die sich so gar nicht mit anderen Städten vergleichen lässt.
Wo sich Istanbul und Wien zu Jerusalem vereinen
Bevor sich meine henkellose Kaffeetasse leert und ich zu einem Spaziergang durch die mir bekannten Straßenzüge Sarajevos aufbreche, schweift mein Blick noch einmal über die spitzen Dächer der Baščaršia und die jahrhundertealten Minaretten, wie Leuchttürme des Glaubens überragen sie samt den gewaltigen, von innen durch so künstlerisch-geschwungene Verzierungen erstrahlenden Kuppeln jegliche Bauwerke der Umgebung. Die ereignisreiche Vergangenheit Bosnien-Herzegowinas scheint an kaum einem anderen Ort im Land so lebendig zu sein wie zwischen den kleinen Kupferschmieden und muslimischen Gebetshäusern; das orientalische Erbe aus über 400-jähriger Fremdherrschaft des Osmanischen Reiches entfaltet sich in Sarajevo wie in nur wenigen anderen Städten des Balkans. Um den im Volksmund bezeichneten Taubenplatz, der zugleich das Herzstück der Baščaršia bildet, reihen sich dicht aneinander gedrängt verschiedenste Geschäfte, deren Angebote von türkisch-bosnischen Süßspeisen über handgefertigte Teppiche bis hin zu den für Sarajevo so typischen džezvas reichen. Letztere werden von Händlern in allen Größen und Gravuren neben anderen, sonderbaren Mitbringseln wie "Warnung! Minen!"-Schildern aus den grausamen Kriegszeiten und Stiften aus Patronenhülsen angeboten.
In der Mitte des Platzes erhebt sich über dem ganzen Trubel der Sebilj als beliebter Treffpunkt jeder Generation. Der Taubenbrunnen - zu bestimmten Tageszeiten umgeben seine Stufen sowie ein Teil des Platzes tausende gurrende Tauben - bietet zu jeder Jahreszeit dem durstig Suchenden klares, eiskaltes Wasser. Eine nicht ohne völligen Wahrheitsgehalt verbreitete Stadtlegende schreibt dem Sebilj die magische Kraft zu, jedem Trinkenden eine rasche Rückkehr nach Sarajevo ins Schicksal zu legen - so trinke ich zum unzähligsten Male das kalte Nass, auch meine Rückkehr musste nur einen Monat auf sich warten lassen.
Am besten lässt man sich von den Menschenmassen durch die verwinkelten Gassen treiben, die sich wie pulsierende Adern von ihrem Herzstück, dem Taubenplatz, in alle Himmelsrichtungen ausbreiten. Der für Westeuropäer unbekannte, fast erdrückend wirkende Strom aus Menschen jeglicher sozialer Herkunft mag auf den ersten Blick verblüffen: in bunte Hidschābs geschlungene Musliminnen bahnen sich laut lachend neben Frauen in bunten Kleidern ihren gemeinsamen Weg; alte, auf Spazierstöcke gestützte Männer stehen alles beobachtend an Häuserecken oder sitzen Pfeife rauchend in den Cafés, natürlich laut über die kleinen Überraschungen des Alltags debattierend (der Bosnier liebt es nämlich, sich intensiv und wild gestikulierend über ein Thema zu unterhalten); zum Straßenbild gehören jedoch ebenso die auf Bordsteinen zusammengekauerten Roma-Kinder, die sich laut singend für einen kleinen Obolus zu empfehlen versuchen. Zu jenen Beobachtungen mischen sich außerdem das laute Durcheinander tausender Stimmen sowie die faszinierenden Gerüche orientalisch anmutender Speisen. Überhaupt weiß die bosnische Küche jeden noch so eigensinnigen Kritiker von sich zu überzeugen. Regelmäßig rückt die für Bosnier überaus wichtige Frage in den Vordergrund, in welcher Stadt nun die besten kleinen Ćevapi-Fleischröllchen serviert werden. Dies kann auch nur allzu oft Gegenstand lauter Diskussionen werden, besonders zwischen Einwohnern aus Travnik, Banja Luka und eben Sarajevo, wenngleich doch alle drei fester Überzeugung sind, den köstlichsten Ćevapi anbieten zu können. Am besten überzeugt man sich aber selbst in einer der vielen Ćevapčinicas, weshalb ich an dieser Stelle noch mein endgültiges Urteil für mich behalte.
"Wenn Sie in Sarajevo ein Kaffeehaus betreten und nach einem Platz zum Sitzen suchen, müssen Sie sehr vorsichtig sein, um nicht über die langen Schläuche zu stolpern, welche die Wasserpfeifenraucher auf flachen Kissen sitzend in der Mitte des Kaffeehauses auf dem Boden hinterlassen. Wenn Sie auf eine dieser langen Pfeifen treten oder sie nur gar berühren, könnte dies für Sie sehr teuer werden, da Sie die Sarajevaner in ihrer Ruhe stören. Trotz der Aufregung auf den Straßen der Čaršija herrscht drinnen Stille. Alles, was Sie hören können, ist das Blubbern der Wasserpfeifen und das Geräusch des Kaffees, der auf der Glut gekocht wird."
Der Reisende Robert Stanhopes schildert ziemlich treffend seine Eindrücke aus Sarajevo, 1634
Wer fühlt sich beim Anblick der verwunschenen Hinterhöfe, während der unerträglich heißen Sommertage im Schatten der Minarette gelegen und von osmanischer Baukunst umgeben, nicht an das Straßenbild des uralten Hafenviertels Karaköy von Istanbul erinnert? Nur das leisere Stimmengewirr bei gekochtem Kaffee verrät eine weitere, für die Hauptstraßen verborgene Oase der Entspannung; gäbe es ein Rezept für die orientalische Lebenskultur, irgendwo in der Mischung aus dem Wasserdampf der Pfeifen, dem süßlichen Geruch der Shishas und den mehrfachen Gebetsrufen des Muezzins, würden sich die pflasternen Höfe der Baščaršia als Definition par excellence auszeichnen. In welche Welt fühlten sich wohl die österreichisch-ungarischen Verwalter versetzt, als sie ab 1878 die Besatzung über Bosnien und die Herzegowina übernahmen? Ob sie ebenfalls dem Kulturschock beim Anblick des lebendigen Markttreibens erlagen? Evliyâ Çelebi jedenfalls, seinerzeit wohl bekannter osmanischer Schriftsteller, durchreiste mehrfach das gesamte Reich der Osmanen von den überfüllten Souks in Damaskus, durch majestätische Perlen wie Istanbul oder Kairo bis in die äußersten Siedlungen und Täler, und notierte sich in seinem Reisetagebuch, dass zwar viele Städte um den Globus als "Saraj" - als Palast - bezeichnet werden, dennoch Sarajevo unter allen die fortschrittlichste, schönste und lebhafteste sei.
Das rhythmische Klopfen und Hämmern der Kupferschmiede, über kleine Tischchen in ihren engen Werkstätten gebeugt, weckt mich aus den Tagträumen und treibt im Takt der Hammerschläge noch tiefer in das für Touristen so unübersichtlich erscheinende Labyrinth der schmalen Gassen. Zwischen Bergen an silbernen Kupfergefäßen und aus Schafwolle gestrickten Jacken, verbirgt sich auf den ersten Blick unscheinbar ein sonderbares Geschäft, weniger nennenswert aufgrund seiner Vielzahl an handgefertigten Kleidungsstücken längst vergangener Zeiten als wegen der außergewöhnlichen Nebenbeschäftigung des sonderbaren Besitzers. Jener Ladenbesitzer kann sich nicht an unser erstes Aufeinandertreffen vor wenigen Monaten erinnern, was ich ihm aber auch keineswegs übel nehme. Vielleicht war ich nach unserer letzten Begegnung unangenehm in seinen Erinnerungen geblieben, konnte ich es mir doch nicht verkneifen, ironisch über seinen Zweitjob als Reiseleiter in den "bosnischen Pyramiden" von Visoko zu lachen. In Visoko, rund 30 Kilometer vor den Toren Sarajevos gelegen, kann der interessierte Besucher Zeuge werden, wie pseudowissenschaftliche Esoteriker seit 2005 mit teils für Historiker haarsträubenden Beweisen zu erklären versuchen, hier befänden sich die mit Abstand ältesten (vor 34.000 Jahren sollen die pyramidenförmigen Hügel errichtet worden sein) und zugleich größten Pyramiden der Welt (ein Drittel höher als die Große Pyramide von Gizeh). Doch das ist eine andere Geschichte, kehren wir lieber in die tägliche Aufregung zurück, die sich besonders an Wochenenden über die Straßenzüge legt.
Bevor sich die Blicke vom Gedränge der muslimischen Altstadt verabschieden und im sich unmittelbar anschließenden österreichisch-ungarischen Viertel zwischen angesagten Cafés und belebten Straßenklubs verlieren, lässt die hinter verwitterten Steinmauern liegende Gazi-Husrev-Beg-Moschee mit ihrem majestätischen Vorhof längst vergangene Zeiten aufleben, in welchen noch Sultane und Paschas die osmanischen Regierungsgeschäfte leiteten. Eine angenehme Ruhe strahlt von den alten Gesteinsblöcken des muslimischen Gotteshauses auf die Köpfe der Betenden und Besucher herab, unweit des Gebetsraumes der ältesten Moschee auf bosnischem Boden hütet die islamische Bibliothek als verstecktes Universum seit 480 Jahren Wissen unschätzbaren Wertes, kaum vorstellbar, welche Geheimnisse und Erinnerungen an die blutige Vergangenheit zwischen den verstaubten Schriften und Buchdeckeln lagern, hier in der ältesten Bibliothek des Balkans. Unter dem Schatten spendenden Dach aus Laubbäumen sitzen alte Männer in lange Gespräche vertieft oder bei einer Partie Schach im Vorhof der Moschee, leise plätschert das Wasser des in der Mitte des Hofes gelegenen Brunnens auf die makellosen Marmorplatten. In unmittelbarer Nähe erheben sich die spitzen Kirchtürme der katholischen Kathedrale, nicht einmal zwei Minuten zu Fuß schließt sich mit der orthodoxen Kirche und ihren atemberaubenden Fresken das religiöse Zentrum der serbischen Einwohner an. Spätestens beim Anblick der drei gewaltigen Gotteshäuser, in einem Umkreis von nicht einmal 500 Metern auf engstem Raum errichtet, beginnt der Besucher zu verstehen, weshalb sich die bosnische Hauptstadt mit vollem Selbstbewusstsein und stolz den Titel als europäisches Jerusalem verdient. Beim Betreten des von Weihrauchdämpfen vernebelten Hauptschiffes der orthodoxen Kirche wandern meine Augen wie so oft zuvor von den naturfarbenen Fresken und in goldenen Verzierungen eingerahmten Ikonendarstellungen durch den Kircheninnenraum, die Gedanken kehren an jene kalten Januartage zurück, als sich die kroatisch-katholische Gemeinde durch den Erzbischof Puljić sowie die serbisch-orthodoxe Gemeinschaft in Form ihres Priesters zur gemeinsamen Predigt trafen - ein Moment, der Gänsehaut auslösen kann, nachdem Kroaten und Serben vor 26 Jahren im kroatischen Städtchen Vukovar den Maßstab nationalistischen Hasses noch durch Gewehrmagazine zum Ausdruck brachten.
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