Nach Hause kommen?
Ich lebe seit einem halben Jahr in Sloweniens Hauptstadt Ljubljana. Diesen Monat bin ich das erste Mal zurück gefahren - nach Deutschland zu meiner Mama, zu Freunden, zur Familie, zu allem Gewohnten und ehemals Vertrauten. Auf meiner Zugfahrt gen Heimat frage ich mich - fahre ich wirklich nach Hause? Je näher ich Deutschland komme desto mehr fällt mir auf, wie deutsch Deutsche sind, wie unfassbar vertraut mir ist, was ich das erste Mal als fremd wahrnehme. Und ich beginne, mich mit deutschen Klischees zu beschäftigen.
Ich war ein halbes Jahr in Slowenien. Ein halbes Jahr von insgesamt einem ganzen Jahr. Ich reise nach Deutschland, meine Familie besuchen.
Ich versuche mich vorzubereiten.
Auf meine Mama.
Auf die deutsche Sprache um mich herum.
Auf Freunde.
Auf all die Vertrautheit, der ich nicht mehr traue - es ist doch immerhin ein halbes Jahr
Auf Fragen und Gespräche, die manchmal interessiert, manchmal verletzend, manchmal einfach zu viel sind.
Auf Deutschland.
Ich sitze in der Bahn, schaue aus dem Fenster und betrachte ungläubig die braunen Schlieren, die die Aussicht etwas trüben; ich habe den Tafeldienst in der Schule wohl doch zu ernst genommen! Unser Zug tuckert gemächlich dahin.
Die Landschaft zieht vorbei, wird steinig, dann feldig. Berge werden erst steiler, dann arten sie in voluminöse Krater aus; das Wort monströs ist hier schon eine Untertreibung - wir fahren durch die Alpen.
10: 41 Fahrkartenkontrolle
Der Kontrolleur spricht deutsch - und ich traue mich gar nicht wirklich auf deutsch zu antworten, so seltsam und ungewohnt kommt es mir vor. Ich merke, dass das ganze Vorbereiten keinen Sinn hatte. Es sind doch fünf Monate, die ich in diesem fremdsprachigen, fremdkulturellen Land gelebt habe, neue Menschen, neue Orte kennengelernt habe. Orte, und Menschen, die ich Zuhause und Freunde nenne. Ich antworte dem Schaffner auf englisch. Aus irgendeinem Grund möchte ich nicht, dass die Menschen um mich herum wissen, dass ich nicht aus Deutschland komme.
11:35 KRAFTKLUB brüllt in mein Ohr “Ich wär gern weniger wie ich, ein bisschen mehr so wie du”. Ich denke kurz darüber nach, wie unnötig viel Energie ich in letzter Zeit dafür verschwendet habe, mich mit anderen Menschen zu vergleichen. Viel mehr, als ich es noch zu Hause in Bremen getan habe. Diese Einsamkeit vom Anfang hat mich unsicher gemacht. Ich war viel mehr Beobachterin als Macherin, viel mehr darauf bedacht abzuwarten, nicht in die Quere zu kommen, mich an den neuen Rhythmus zu gewöhnen. Dabei habe ich mich versucht anzupassen an Vieles, das mir gar nicht passt, habe Intuition und Spontanität gegen Vorsicht getauscht und gleichzeitig versucht locker zu sein, obwohl ich weiß, dass ich nicht gut im schauspielern bin.
Meine Sitznachbarin, die ich für slowenisch hielt, plaudert plötzlich in lautem Schwiizerdütsch ins Telefon. Ich muss grinsen. Meine andere Sitznachbarin (wir sitzen einem dieser fancy Sechserwagons, in denen man sich entweder ungewollt nahe kommt oder tolle Gespräche führt) grinst auch. Sie versteht also auch deutsch. War so klar irgendwie.
Sie ist Studentin, aus Berlin, hat eine Freundin in Ljubljana besucht, Erasmus (war auch klar). “Grundschullehramt” … “Tolle Landschaft in Slowenien” … “Fahrtlänge” …”es hat TATSÄCHLICH geschneit”...
Was man sich eben so erzählt.
12:57 Ich fahre an einem quietschgrünen Berg vorbei, auf dem eine schneeweiße Skipiste klebt und frage mich, ob ich ernsthaft schon wieder die Skisaison eines gesamten Jahres verpasst habe. Traurig! Kurz gecheckt - Skilift steht still.
Nach Salzburg steigt der Anteil deutscher Sprache um mich herum um nahezu 100%.
Ich versuche, nicht allzu überfordert davon zu sein, jeden unnötigen (aber dennoch interessanten) Schnickschnack der Menschen um mich herum mitzubekommen - bin es aber. Es ist einfach ein zu gewaltiger Unterschied, habe ich doch das letzte halbe Jahr alle Sprache um mich herum als eine Art Musik wahrgenommen. Slowenischer Rap - oder so.
In München steige ich um.
18:48 Meine Sitznachbarin telefoniert.
“Und dann ham wa heute umjetopft (...) und den Tag davor hatte die Gisela 60ten Geburtstag (...) Obwohl die Kelly nen Stromauto hat, wie nennt man das (Pause) E-Auto, jenau - nee das wär nichts für mich. (...) Aber das können wir ja dann über die Tourismuszentrale herausfinden, ich ruf da mal an (...) Suizidgefährdet gell? - rennt immer zum Fenster - wär schon bissel viel für mich. (...) Du hast auch keine Putzfrau? - nee du hattest ma eine - die lesbisch war (Pause) da wär ich vorsichtig, nee das wär nichts für mich (...)”
Willkommen in Deutschland!
19:03 Jetzt teilt meine Nachbarin interessante Ideen und Ansätze zum Ukraine-Krieg. “(...) den müsste man in die Psychatrie schicken, der ist doch genauso grenzenlos wie Hitler”
Bin da im Ansatz ganz bei dir Gertrud, würde aber bei Gelegenheit nochmal auf das Putzfrauenthema zurückkommen.
“Wie wär dass, wenn sich alle Staaten einfach zusammen tun würden… (...) Aber die Chinesen sind auch gefährlich”
Sie wird richtig aufgebracht.
“Das ist alles noch schlimmer als dieses Omikron”
Ich beginne sie fast süß zu finden.
Meine Nachbarin scheint gerade richtig am globalen politischen Diskurs interessiert.
Ich wundere mich ernsthaft manchmal darüber, was ältere Menschen sagen, wenn es um Politik geht und wie sicher die sich ihrer Selbst sind. Versteht mich nicht falsch, ich wundere mich auch über junge Leute, mich da nicht ausgeschlossen. Aber es ist doch ein Unterschied, ob man mit Anfang 20 noch ein etwas unscharfes oder sagen wir bruchstückhaftes Bild von Politik, Gesellschaft, Systemen und internationalen Beziehungen hat oder wenn man mit stattlichen 65 Jahren so vagen und noch dazu völlig verallgemeinerten Wums von sich gibt. Es ist mir ein Rätsel und ich entscheide, nicht so werden zu wollen. Ich möchte mir grade ein neues Video der ZDF Serie 13 Fragen anschauen, bei dem diesmal verschiedene Boykott- Möglichkeiten Deutschlands gegenüber Russland diskutiert werden, da sagt meine Nachbarin:
“Vielleicht wär ja der Steinmeier der richtje, um ma mit jemandem zu reden … oder der Dalai Lama - irgendjemand Neutrales”
Uschi ernsthaft jetzt?
Während ich mir eine kleine Lachträne von der Wange wische, google ich schnell, der wievielte Dalei Lama inzwischen existiert. Es ist der 14.
19:23 Ich checke zum 12. Mal, wo genau ich auf Google Maps bin. Ich liebe es beim Bahnfahren diesen kleinen blauen Punkt zu verfolgen. Ich ändere den Punkt und bin nun ein roter Truck. Google Maps weiß erst nicht so genau, dann sagt es: “near Stettiner Straße 1, Würzburg.” Ich schaue nach draußen und sehe - wir sind mitten zwischen Kornfeldern.
Danke Google - danke für alles!
(Fun Fakt: grade jetzt wo ich diesen Text auf meiner Rückfahrt nach Slowenien abtippe und Korrektur lese, schaue ich auf die Bahnanzeige und sehe: Nächster Halt Würzburg Hbf - was ein Zufall. Wer unter uns an Schicksal glaubt, dem stehe frei das zu tun!)
19:54 Faber brüllt schon zum dritten Mal “ich habe dich geliebt, tausend Franken lang” und ich frage mich zum mindestens 120. Mal (K.P. wie oft ich das Lied schon gehört habe) wie er das wohl meint und und ob ich das Lied immer noch hören würde, wenn er es ernst meint, was er sagt. Ich google “Faber - Musiker - Kontroverse” und finde viele Interviews in denen Faber viel Versöhnliches sagt, unter anderem, dass er es wichtig findet, “dass Kunst kontrovers ist. Weil sich erst dann Menschen damit auseinandersetzen.” Ich bedanke mich bei Spiegel Panorama für das Interview, nach dem ich mir ohne schlechtes Gewissen jetzt auch noch “Top” und “Das Boot ist voll” anhöre.
19:58 Ich gucke trübselig aus dem Fenster und will gerade schreiben, dass ich trübselig aus dem Fenster gucke und es regnet und beschissener Nebel über ALLEM liegt und die Fensterscheibe an der ich lehne immer kälter wird, da singt Spotify, bzw. diese Band mit dem kreativen Namen 01099 “Draußen wird es frisch…”
I Feel you 01099!
Ich würd mir auch gern 2 mit dir drehen - aber Bahn und so! Aber ich hab immerhin auch nen Vintage Hoodie.
Ich fange an Selbstgespräche mit den Liedern zu führen, die ich gerade höre.
Es wird Zeit anzukommen!