Lernen und lernen lassen
Seminarwoche ist angesagt. Und was für eine!
Na ihr? Ich nerve euch mal wieder… aber diesmal nicht aus Cluj. Was zum Teufel, von wo dann? Keine Sorge, ich hab mein Projekt nicht abgebrochen - ich bin in Sibiu, genau genommen, oder auch “Herrmannsstadt” wenn euch das nicht deutsch genug war. Grad sitze ich in einem schäbigen Bahnhofscafé, bis vor 30 Sekunden dachte ich, ich hätte mein Portemonnaie verloren. Also sackt der Adrenalinpegel grad ziemlich ab… und wie bin ich überhaupt hierhergekommen?
OAT lautet die Antwort darauf, On-Arrival-Training. Jeder EVS’ler besucht innerhalb seiner ersten zwei Projektmonate dieses einwöchige Seminar, lernt ein bisschen Zeug, macht die Nacht zum Tag und lernt andere Freiwillige aus ganz Europa kennen. Ich will nicht spoilern, aber es war eine ziemlich tolle Woche!
Erster Streich
Und dabei ging sie absolut grausam los. Samstag war der letzte Tag daheim, und ich hatte große Pläne. Last-minute-Ungarisch-lernen, packen, aufräumen, Reisen buchen, Artikel schreiben, Geschenke kaufen… die Realität sah dann anders aus. Ein 24-Stunden-Virus (oder vielleicht die nicht mehr ganz frische Sahne, mit der ich am Abend zuvor trotzdem gekocht hatte) fesselte mich ans Bett und wirklich nur ans Bett - sobald ich aufstand, sackten mir gefühlt all meine Organe in die Knie. Keine weiteren Details… aber tolles Timing, denn Alkie ging an dem Abend noch lang feiern. :( Und weil all das noch nicht reicht, fiel der WLAN-Router Freitagabend und das heiße Wasser Samstagmorgen aus und der Kühlschrank war wegen der bevorstehenden Reise natürlich auch so gut wie leer (nicht, dass ich auch nur einen Bissen bei mir hätte behalten können).
Nicht grad mein Lieblingswochenende… aber hey, es war ja nur der Tag, und Sonntagmittag ging es los! Mit dem Zug (in dem Johanna sich schon wieder über die Abwesenheit von Bäumen in Rumänien beschwerte :D) zu einem komplett zerstörten Busbahnhof in einen komplett zerstörten Bus. Erst in den Dorfgegenden wird einem klar, was es für ein Privileg ist, in Cluj zu wohnen. Aber das war es wert, denn als wir in den Bus stiegen (oder eher sprangen) hatten wir wieder ein Abteil. Harry-Potter-Feeling is back! ♡
Am Hauptbahnhof musste dann doch ein Taxi zum Hotel herhalten, die Busse fuhren bereits nicht mehr. Willkommen in Rumänien. Das Hotel hatte zwar eine echt luxuriöse, einschüchternde Einrichtung, dafür aber auch eine fast schon witzige Lage - umringt von fünf (!) Tankstellen und sonst nichts. :D Na, was soll’s, ich bin ja nicht für großes Sightseeing hier. Alkie und ich bezogen unser Zimmer - ein Doppelbett nur für mich! - und lernten beim Abendessen direkt alle kennen. Namen habe ich mir an dem Abend absolut nicht gemerkt, aber mein erster Eindruck, dass das eine durchgängig liebe und lustige Truppe ist, sollte sich als wahr herausstellen.
Nach dem Essen quetschten wir uns alle 41 irgendwie in ein einziges Zimmer - zum Glück habe ich keine Klaustrophobie! Ich strengte mich wirklich körperlich an, um meine - gelinde gesagt - Schüchternheit zu überwinden und in dem laut summenden, überfüllten Raum mit möglichst vielen Leuten zu sprechen. Um halb 1 nachts war ich davon komplett ausgelaugt und ging aufs Zimmer, aber zumindest nicht mit einem schlechten Gefühl.
Zweiter Streich
Und so war ich am Montag wenigstens nicht vollkommen übermüdet, als es zum ersten Seminar ging - das hauptsächlich aus Kennenlernspielen bestand. Na ja, man tut, was man tun muss. Wir mussten z.B. unsere ersten Eindrücke von anderen auf Post-its schreiben - und sie dann zerreißen. (Ich bekam doch tatsächlich "talkative", wow, da lag aber jemand ganz weit daneben :D)
In der Pause liefen ich und ein paar Andere zum Flughafen, um zumindest sowas ähnliches wie frische Luft an der Hauptstraße zu bekommen. Karin lieh mir ihre Sonnenbrille, und sofort war ich natürlich die coolste in der Gruppe. ;) Das Mittagessen hier bekam niemanden wirklich gut. Mindestens die Hälfte beschwerte sich innerhalb der Woche bei mir über Bauchschmerzen, mich eingeschlossen. Aber jammern will ich nicht - es ist immer noch besser als das, was wir mittlerweile “Csemete food” nennen. :D
Weiter gings dann mit Präsentationen über unsere jeweiligen Projekte. Alkie und ich waren scheinbar die Einzigen, die nicht zu 120% zufrieden mit ihrem Projekt sind. Aber zugegeben, die anderen Projekte klangen so viel interessanter! Aber wo will ich mich beschweren, dass ich mit 17 überhaupt ein EVS machen darf, ist schon mehr als man erwarten sollte.
Ah, und ein Junge aus Griechenland, Stergios, schlug noch für alle ein Killerspiel vor (toller erster Eindruck! :D). Jeder zog zwei Zettel, einmal einen Namen und einmal eine “Waffe” (in meinem Fall ein Löffel). Nun musste man sein Opfer allein in einen Raum locken und es dann mit der Waffe berühren, um es zu töten. Klingt in der Theorie lustig, aber ich starb nach weniger als 24 Stunden auf dem Mädchenklo. :D
Abends ging es dann in die Stadt, aber das geht bei mir natürlich nicht ohne Hindernisse. Ich Genie hatte fünf Eyeliner und keinen einzigen Mascara eingepackt. Meine Güte, wieso hab ich eigentlich Abi?! Aber alles kein Ding, Basak aus der Türkei lieh mir ihre Wimperntusche und schon sah ich präsentabel aus. Nach eineinhalb Stunden laufen - und in meinem Fall eineinhalb Stunden quatschen mit demselbem Jungen, Uvis aus Lettland - fanden wir auch endlich eine Bar, die montagsabend öffnet. Sibiu ist unter der Woche wie ausgestorben! Abgesehen von den Dächern, auf denen kleine Minidächer sitzen, die wie Augen aussehen. Sie scheinen dich direkt anzustarren. Ah!
Lustig war der Abend trotzdem, aber gegen 2 machte ich mich auf dem Heimweg. Scheinbar fror ich so bemitleidenswert, dass Uvis mir seine Jacke lieh. Anscheinend friert er nie!
Dritter Streich
Zugegeben, am nächsten Tag war ich dann doch müde. :D Aber da muss man durch. Das Tagesthema war der EVS im Detail - was sind meine Rechte, meine Pflichten und wer spielt sonst noch so mit? Ich bin froh über den Tag - davor haben wir uns irgendwie nur “ins Leere beschwert”, und nun wissen wir, was normal ist und was absolut nicht stimmt.
Nach der Mittagspause sollten wir eigentlich in den Park gehen und auf dem Weg in Viererteams ein paar Fragen beantworten (wie z.B. “Du verliebst dich in deinen Mentor, er distanziert sich und wird deswegen gefeuert. Was tust du?” Eh?!). Der “Park” war dann aber… ein Parkplatz. Wow. Badumm tss. Zum Abschluss spielten wir noch ein seltsames Wettrennen-Spiel, und ich wurde direkt mal von einem besonders ehrgeizigen Spieler zu Boden getacklet :D Nunja, das überlebe ich schon, auch wenn man mich noch Tage danach mit Panik in den Augen “Are you okay??” fragte. :D
Dienstagabend verzichteten wir lieber auf den einstündigen Marsch in die Stadt und begaben uns wieder in das gleiche Zimmer. Auch wenn ich jemanden, der an dem Abend wirklich schlimme Neuigkeiten bekam, zu trösten versuchte (nicht so einfach, wenn die Person kaum Englisch spricht, ich hab’s versucht), war der Abend alles in allem echt schön. Wir spielten bis etwa 4 Uhr morgens “Wer bin ich”, und man pappte mir doch echt Hillary Clinton an! Das nehm ich persönlich! :D
Vierter Streich
Mittwoch ging es dann zuerst um den Mentor, und unsere Mentorin tut scheinbar nichts von dem, was sie tun soll. Nunja… es ist zumindest gut zu wissen, jetzt können wir das klären. Außerdem mussten wir unseren Entwicklungsplan aufzeichnen. Das war mir so persönlich, dass ich versuchte, es auf deutsch zu schreiben - erst hinterher fiel mir auf, dass ich, ohne es zu merken, Englisch geschrieben hatte. Wtf? Ich verlerne meine eigene Muttersprache hier. Na, das macht nichts, je weniger deutsch, desto besser. Und mindestens vier Leute im Raum hätten es sowieso verstanden.
Danach spielten wir ein seltsames Hindernis-Spiel, in dem ich jemandem die Augen verbinden und durch einen Parcours aus Stühlen und Seilen führen musste. Allerdings durfte ich nur meine Muttersprache sprechen… arme Anaïs! Dabei schlug sie sich ganz gut, abgesehen davon, dass sie sich auf alles draufsetzte, das sie fand. :D
Außerdem skypten wir mit der Nationalen Agentur Rumäniens, und meine Güte, war das langweilig. Die könnten gute Politiker werden. Um jede Frage, die wir stellten, redeten sie gefühlte Stunden herum, ohne sie zu beantworten. Das einzige, das mich wachhielt, waren Feris Kritzeleien und genervte-Blicke-austauschen mit, nunja, so ziemlich jedem Anwesenden.
Der Abend war dafür umso lustiger. Intercultural evening! Alle Leute aus einem Land mussten sich zusammenschließen und sich einen Sketch über landestypische Begrüßungen in ihrem Land überlegen. Na toll… wie soll Deutschland denn gegen so viele Gruppen lebensfroher Südländer irgendwas bringen? Unsere Kultur ist im Gegensatz dazu unerträglich angespannt. Aber Lorena, Johanna und ich haben es irgendwie geschafft, indem wir es komplett überspitzten. Oh, es tut mir so leid, wir haben acht Uhr ausgemacht und nun ist es schon acht Uhr zwei! Schuhe bitte ausziehen, das Laminat ist frisch gewischt, gestern war Kehrwoche! Ein Käffchen gefällig? Und bei jedem Gespräch den steinharten Händedruck und drei Meter Sicherheitsabstand. Wie erwartet war es nicht so witzig wie die anderen Länder, aber es hätte schlimmer sein können. Alex (Großbritannien) ließ uns zum Beispiel die Zeit stoppen, um zu zeigen, wie viel Zeit er mit Höflichkeiten verschwendet, und Mareen (Niederlande) demonstrierte, wie man verschiedene Leute wie z.B. den “creepy uncle” am Geburtstagstisch begrüßt. Am Ende mussten wir alle die Sätze “You have a nice smile. You are beautiful!” in unsere Landessprachen übersetzen. Das war dann schon wieder süß.
Danach gingen wir schon wieder auf dasselbe Zimmer. :D Feri aus Ungarn beschloss, sich für… irgendetwas zu rächen und mich den ganzen Abend fertigzumachen. Er stahl meine Schuhe, stahl mein Handy, schickte Snaps an Freunde und auch Fremde in meiner Kontaktliste, startete ein Livevideo auf Facebook (das meine Mutter sah.... hi Mama, normalerweise bin ich total fleißig und vorbildlich… ) und malte mir schließlich mit wasserfestem Stift eine Spinne auf die Hand. Und ich war immer nur nett zu ihm! :( Um vier war echt Schluss mit lustig und ich ging! :D
Fünfter Streich
Donnerstag ging es dann um den interkulturellen Kontext, weswegen wir für eine Schnitzeljagd in Fünfergruppen rausgeschmissen wurden. Endlich raus aus dem stickigen Seminarraum, hui! Wir mussten einheimische Leute Fragen wie z.B. “Nennen Sie uns fünf rumänische Suppen und ihre Zutaten” stellen. Wow, an was erinnert mich das denn… definitiv nicht an mein Praktikum bei Radio Vest. ;) Na, dafür hatte ich schon ein Gespür dafür, welche Leute man für sowas ansprechen kann und welche dich mit einem Todesblick abservieren werden.
Wir teilten uns auf und ich machte mich mit Orione aus Italien auf die Suche, die wirklich hübsch, aber auch wirklich lieb ist! Danach unterhielten wir uns noch und schlenderten durch die stillen, kleinen Gassen, die mich an Venedig erinnerten… aber was erzähle ich ihr das. :D Es war sehr schön. Wieso musste gerade sie früher gehen?
Wir bestiegen noch einen hohen Turm über eine Wendeltreppe, oh Gott, willkommen in der Hölle. Wendeltreppen sind grausam, und noch viel grausamer, wenn Stergios mich und Aurelie ganz gern mal aus der Dunkelheit anspringt und erschreckt. :D Dafür war die Aussicht ein Traum, oder, um es mit den Worten eines deutschen Kindes da oben zu sagen - “voll krass”!
Ah, und außerdem holten wir uns klebrige, tolle Donuts, bevor wir den Bus zurücknahmen.
Letzter Streich
Und Freitag war dann auch schon der letzte Tag für mich… es ging endlich um Rumänien selbst, in Form von diversen Wahlpflicht-Workshops. Natürlich zog es mich zuerst zum Aktivism-Workshop! Der war dann aber eher eine Geschichtsstunde. Zumindest wurde das ganze Debakel um die gleichgeschlechtliche Ehe hier diskutiert. Das ist das Einzige, das ich an meiner neuen Heimat wirklich hasse - die tief verwurzelte Homophobie.
Und das wars auch schon. Abendessen, alle umarmen und mit Trauer daran denken, wie wenig Zeit es letztendlich war und dass ich die Abschiedsparty verpassen werde. Ah, und zum Fernbusbahnhof laufen, eine Stunde lang, ich muss nach Bukarest. Nun werde ich Busse, Züge, Taxis und Flugzeuge durch die ganze Nacht nehmen. Jetzt ist es 22 Uhr, morgen gegen 11 komme ich - wenn alles klappt - in Stockholm an, sehr wahrscheinlich ohne eine Minute Schlaf. Das kann was werden. Aber nach dieser Woche ohne viel Schlaf schafft mein Körper auch das!
Und bei wem beschwere ich mich schon? Ich fahre nach Schweden! Ah, bin ich aufgeregt. Aufgeregt und traurig, denn die Woche ging rasend schnell vorbei und lässt sich nicht wiederholen. Ich möchte alle Leute so bald wie möglich besuchen.
Gatta! Bis bald, see ya soon, la revedere, viszlat!