"Wir sind Europa!"
Der Titel "Wir sind Europa!" soll natürlich wie die Originalschlagzeile der Bild "Wir sind Papst!" 2005 zuallererst Aufmerksamkeit erregen. Zugleich nimmt der Titel aber auch die Schlussfolgerung meines Beitrages in zugegeben etwas vereinfachter Form vorweg. Um dorthin hinzuleiten, werde ich auf eine Reihe eigener Grenzerfahrungen zurückgreifen, die mein Verständnis dieses Begriffs fortwährend verändert haben.
Der Titel „Wir sind Europa!“ soll natürlich wie die Originalschlagzeile der Bild „Wir sind Papst!“ 2005 zuallererst Aufmerksamkeit erregen. Zugleich nimmt der Titel aber auch die Schlussfolgerung meines Beitrages in zugegeben etwas vereinfachter Form vorweg. Um dorthin hinzuleiten, werde ich auf eine Reihe eigener Grenzerfahrungen zurückgreifen, die mein Verständnis dieses Begriffs fortwährend verändert haben. Ich durfte in den letzten 10 Jahren an so besonderen Orten wie Island, das mitten im Atlantik fern jeglicher Nachbarländer liegt, Frankfurt (Oder), welches mit Recht ein Symbol der deutsch-polnischen Freundschaft darstellt und la Réunion, das im Indischen Ozean liegt, aber trotzdem zu Europa gehört, leben. Mit einem Umweg über die Niederlande und Frankreich bin ich inzwischen in einem Land gelandet, dass so in sich geteilt ist und dessen Grenzen mitten durch das eigene Land so präsent sind, dass ebenjenes Land während einer Veranstaltung in der Botschaft von Bosnien Herzegowina, bei der ich kürzlich war, wiederholt mit demselben verglichen wurde. Und dessen Hauptstadt auch noch oft als die heimliche Hauptstadt Europas bezeichnet wird. All diese Orte haben mir verdeutlicht, dass Grenzen kreuz und quer durch Raum und Zeit und oft genug durch die Mitte unserer Gesellschaft verlaufen und vor allem fest in unseren Köpfen sitzen.
Am Anfang meines Studiums habe ich Grenzen vor allem als eine Herausforderung, als eine Möglichkeit mich auszuprobieren und Abenteuer verstanden. Deshalb war es für mich klar, als ich mein Studium an der Europa-Universität Viadrina begann, die Europa ja schon im Namen hat, dass ich auch auf die polnische Seite der Oder ziehen würde. Ich habe meine Entscheidung für die kleine Grenzstadt „mit dem östlichsten Studentenclub Deutschlands“, von dem man aus dem Erstsemesterhandbuch erfährt, nie bereut. Aber ich habe auch gelernt, dass deutsch-polnische Freundschaft nicht automatisch funktioniert- und dass sonst fast keine anderen Deutschen in Polen wohnen, schon gar nicht solche, die kein polnisch sprechen! Ein Grund dafür, dass sich so wenig Deutsche für das polnische Studentenwohnheim entscheiden, mag sicherlich sein, dass man sich dort das erste Jahr das Zimmer mit einer anderen Person teilen muss. Was sich unsere polnischen Nachbarn vielleicht noch vorstellen können, ist den meisten Deutschen dann doch zu unbequem. Die Grenzerfahrung war damals noch sehr sinnlich erfahrbar, da ich tatsächlich noch bei jedem Überqueren der Oder meinen Ausweis vorzeigen musste. Mittlerweile ist Polen Teil des Schengenabkommens. Erst viel später, als ich während meines Masterstudiums in Belgien wohnte und in den Niederlanden studierte, ist mir aufgefallen, wie sehr die geographischen Grenzen innerhalb Europas an Präsenz verlieren. Auf dem Weg nach Maastricht überquerte ich die Grenze zwischen den beiden Ländern oft, ohne es zu bemerken. In Frankfurt (Oder) war die Grenze zwischen Polen und Deutschland damals noch eine sehr präsente. Und das obwohl unsere damalige Präsidentin der Universität Gesine Schwan sich alle Mühe gab, die Universität als einen multikulturellen Ort ohne Grenzen zu stilisieren. Was es genauso sehr oder wenig wie andere Orte, an denen ich später lebte wie etwa Maastricht mit seinem Drittel an deutschen Studenten und Brüssel mit seinem internationalen Flair auch ist. Es gab und gibt hier und dort viel guten Willen und Initiativen, aber auch viele Freundeskreise, die national bleiben.
Ich habe meinem Studium an der Viadrina viele Dinge zu verdanken. Eines davon ist die Entdeckung einer der schönsten Inseln im Indischen Ozean. Bei einer Informationsveranstaltung erfuhr ich von der Möglichkeit, für ein paar Monate an einer Schule zu unterrichten und dafür bezahlt zu werden. Mein Interesse war geweckt. Als ich dann noch erfuhr, dass es auch Stellen in dem Überseedepartment Frankreichs la Réunion gab und gleich danach lernte, dass es sich dabei um eine ehemalige Kolonie Frankreichs 10.000 km entfernt handelte, stand mein Entschluss schnell fest. 10.000 km von zuhause weg schien mir mit 21 gerade wild und Abenteuer genug zu sein. Ich bewarb mich, bekam die Stelle und setzte mich Ende September 2007 in Paris in ein Flugzeug nach la Réunion. Die 7 Monate auf der Insel haben mir viele Dinge gebracht: die Erfahrung, zu unterrichten, die letztlich meine berufliche Laufbahn beeinflusst hat, besseres Französisch und viele Naturerlebnisse am Strand, in den Bergen, im Dschungel und sogar auf einem Vulkan. Was der Aufenthalt zu meiner Idee von Grenzen beigetragen hat ist vielleicht die Erkenntnis, was für ein kompliziertes Konstrukt Identität sein kann. Die Menschen auf la Réunion, mit denen ich gesprochen habe, sehen sich durchaus als Franzosen und Europäer. Gleichzeitig liegt der Rest von Europa aber auch weit weg, von Frankreich spricht man als „la métropole“ und die Franzosen, von denen gar nicht so wenige für einige Jahre auf die Insel kommen, werden häufig als diejenigen wahrgenommen, die den Einheimischen die generell rar gesäten Arbeitsplätze wegnehmen. Nichtdestotrotz waren die Réunionaisen 2002 die ersten Europäer, die offiziell mit dem Euro bezahlen durften und das Arbeitslosengeld für die 30-40 % Arbeitslosen auf der Insel kommt aus der Hauptstadt. Die Klassenfahrten schließlich der Schüler an meinen Schulen führten auf die Nachbarinsel Mauritius und nach Südafrika, aber auch nach Deutschland.
Als ich von la Réunion nach Frankfurt (Oder) zurückkam, zog ich diesmal auf die deutsche Seite, um mein Bachelorstudium zu beenden. Einfach weil es bequemer war. Und das wiederum ist durchaus eine Lektion, die ich gelernt habe: Ausland, das Andere, das Abenteuer ist schön und lehrreich, aber auch anstrengend. Es kostet viel Energie, immer der Fremde zu sein und sich nicht auszukennen. Und sich immer in einer anderen Sprache auszudrücken, egal ob bei einer Party oder beim Arzt, ist zuweilen ermüdend. Das eigene Land und die eigene Sprache bieten dagegen eine Komfortzone, die Geborgenheit vermittelt. Meine Ambitionen, nun internationales Recht zu studieren, standen der Idee, sich nun gemütlich in einer Komfortzone einzurichten, allerdings im Weg. Stattdessen zog ich nach Maastricht, Nizza, zurück nach Maastricht und dann nach Straßburg und Brüssel. Was europäische Grenzen angeht, lernte ich vor allem, dass die Herausforderungen überall ähnlich sind, ob in Frankfurt (Oder), Maastricht oder Straßburg, in dessen unmittelbarer Nähe die deutsche Stadt Kehl liegt. In Frankfurt (Oder) wie in Maastricht fragt man sich, warum nicht mehr Deutsche die Sprache der anderen lernen und wie man internationale Studenten besser integrieren kann. Und in Frankfurt (Oder) wie in Straßburg wird eine gemeinsame Straßenbahn die die beiden Städte mit ihren Nachbarstädten auf der anderen Seite der Grenze verbinden würde, immer wieder diskutiert. Mit dem einzigen Unterschied, dass die deutsch-französische Straßenbahn inzwischen beschlossene Sache ist.
Nach über 5 Jahren, die ich jetzt insgesamt im Ausland verbracht habe, sehe ich inzwischen, dass Grenzen bzw. auch Abgrenzung auch helfen, uns selbst zu definieren und uns einen Schutzraum ermöglichen. Ich wundere mich schon lange nicht mehr darüber, dass ich bei Veranstaltungen in Brüssel immer noch manchmal zuerst den anderen Deutschen vorgestellt werde, als bräuchten wir in einer Stadt wie Brüssel, in der man ohnehin häufig deutsch auf der Straße hört, Hilfe um zueinander zu finden und als müssten wir als Deutsche automatisch etwas gemeinsam haben. Ich wohne hier in Brüssel mit einem Niederländer, einer Belgierin, einem Italiener, einer Bulgarin, einem Iren und einer Ungarin zusammen. Meine Kollegen auf Arbeit kommen aus ungefähr eben so vielen unterschiedlichen Ländern. Trotzdem empfinde ich gerade Brüssel auch als einen Ort, der mir immer wieder zeigt, dass es mitunter gar nicht so einfach ist, die gemeinschaftststiftende Funktion einer gemeinsamen Sprache zu ignorieren. Deswegen habe ich auch selbst schon manchmal auf einer Veranstaltung andere Deutsche angesprochen statt anderer Gäste. Lediglich weil es einfacher ist.
Grenzen existieren in Europa. Selbst hier in Brüssel, wo man manchmal den Eindruck hat, dass hier mehr Expats als Belgier leben und alle wie selbstverständlich Auslandserfahrung haben und mehrere Fremdsprachen sprechen. Aber das Ziel auch für Europa im Großen war es ja nie Grenzen auszuradieren, sondern sie in einer Art und Weise erlebbar zu machen, die es dem einen ermöglicht sich frei zu entfalten und dabei den anderen zu respektieren, ohne dass der eine oder andere gezwungen wäre, seine Einzigartigkeit aufzugeben. Deswegen scheint mir die Frage, die oft in Brüssel gestellt wird, ob wir mehr oder weniger Europa brauchen, auch irreführend. Europa ist schon längst da. Die Frage ist schon lange nicht mehr, ob wir Europa bzw. die Europäische Union wollen, sondern wie genau beides aussehen soll. Das zu gestalten liegt gerade an uns jungen Europäern. Denn wir sind Europa.