Trampen mit Herz und Verstand
Trampen ist die lustigste Art zu Reisen – glaub es ruhig! Du triffst die verrücktesten Menschen, erlebst unglaubliche Geschichten und manchmal bist du traurig, wenn die Fahrt am nächsten Rastplatz endet.
Von Prag nach Basel
Der Himmel ist grau und die Leute im Bus schauen finster. Mit einem alten Pizzakarton stehen wir am Straßenrand. Basel steht drauf geschrieben. Ungefähr 730 Kilometer liegen vor uns. Reka zieht sich noch einen Pullover über. Es ist furchtbar kalt. Endlich, nach zwanzig Minuten hält ein Auto. Die ersten 150 Kilometer sind geschafft. An der nächsten Raststätte einsame Leere, kein Auto weit und breit. Es beginnt zu regnen. Unsere gute Laune ist bald dahin. Mir fehlt Rekas schönes Lachen. Lautstark bremst ein alter Ford. Ein kurzer Blickkontakt mit dem Fahrer, dann ist alles klar. Trampen ist immer ein bisschen wie Jagen. Noch etwas ängstlich windet sich der Fahrer. Nein, er nimmt generell keine Anhalter mit und Platz ist da auch nicht mehr in seinem Auto. Doch unserer Charmeoffensive kann er nicht entkommen. Fünf Minuten später sitzen wir neben Pawel im Ford. Er ist Bauunternehmer und hat gleich seiner Freundin am Telefon von seinen merkwürdigen Mitfahrern erzählt. Ob es nicht gefährlich sei, zwei Mädels und Trampen, fragt er sich. Ein wirklich guter Einstieg und schon plaudern wir in holprigem Englisch munter drauf los.
Von den MDGs* hat er noch nichts gehört. Aber wenn er an seine kleine Tochter daheim denkt, gibt er zu bedenken, findet er es wichtig über das Thema der globalen Verantwortung nachzudenken. Doch auch Zweifel: Was kann er als Einzelner schon tun? Unsere Antworten überraschen ihn. Auf fair gehandelte Produkte achten, Obst und Gemüse auf dem Wochenmarkt kaufen statt im Supermarkt und öfter mal das Fahrrad dem Auto vorziehen – „So einfach ist das?“, wundert sich Pawel.
Da taucht auch schon der nächste Rastplatz auf. Der letzte Halt in Tschechien. Reka sitzt inmitten eines riesigen Rucksackberges und bemalt gedankenverloren unseren alten Pizzakarton. Meine Augen überfliegen die Nummernschilder auf dem Parkplatz. Richtung München? Gar nicht so schlecht, denke ich. Doch der Fahrer des eisblauen Mercedes ist ungehalten. Er und Anhalter, das passe überhaupt nicht zusammen, würgt er meine Frage ab. Ich wünsche ihm dennoch einen schönen Tag. Etwas schüchtern sieht uns Iwan zu. Er ist 24 Jahre alt und arbeitet in einer Computerfirma in der Nähe von Karlsruhe. Perfekt. Wenig später ist unser schweres Gepäck im Kofferraum verstaut. Vierhundert Kilometer können wir zusammen fahren – was für ein Glück! Reka macht es sich auf der Rücksitzbank gemütlich. Leider spricht Iwan nur wenig Englisch. Unsere Unterhaltung ermüdet sich bald und immer öfter fallen mir vor Müdigkeit die Augen zu.
Georg und Soja erzählen vom Trampen. Wir sitzen mittlerweile in einem alten VW-Bus. Die Rücksitze fehlen und Gepäckstücke stapeln sich bis zum Dach. Liebevoll hat uns Soja ein gemütliches Kissenlager hergerichtet. Georg findet es schade, dass nur noch so wenige Leute trampen. Früher sei das anders gewesen. Einen richtigen Konkurrenzkampf habe es auf den Strassen gegeben. Erinnerungen werden wach. Sie erzählen von Italien, Spanien und ein bisschen Frankreich. Zwanzig Jahre sei das schon her, spricht Soja sanft. Eine graue Strähne schimmert in ihrem Haar. Es ist ein guter Abschied von den Beiden - ein Abschied der immer auch ein wenig wehmütig ist. Frank liebt schnelle Autos und Frauen. Das wird sehr schnell klar. Mit seinem Kleintransporter ist er auf dem Weg nach Spanien. Irgendetwas mit Autoteile. Sein starkes Parfüm brennt in meiner Nase. Für Reka ist es schwer seinem schwäbischen Dialekt zu folgen. Ein bisschen Deutsch hat sie in der Schule gelernt, zu Hause in Ungarn. Ein Handy klingelt. Frank bittet uns sehr leise zu sein und streitet mit seiner Frau. Reka muss kichern.
Erleichtert steigen wir an der nächsten Raststelle aus. Rico freut sich: „Endlich mal wieder Damenbesuch an Bord.“ Schnell räumt er ein vergammeltes Pizzastück vom Sitz. Meine Augen fixieren die nackte Frau am Rückspiegel: „Das dritte Millenniumsziel betrifft die Frauengleichberechtigung. Hast du schon mal etwas davon gehört?“ Aber Rico hört mich nicht. Er redet ununterbrochen weiter. Nach einer halben Stunde erreichen wir Freiburg. Reka atmet auf.
Aus ihrem Rucksack zaubert sie vermatschten Käse und ein Stückchen Brot. Köstlich. Der Tankstellenwart mustert uns skeptisch. Langsam geht die Sonne unter. Noch 60 Kilometer bis Basel. Johannes möchte uns eigentlich nicht mitnehmen. Aber zwei junge Frauen in der Nacht allein an einer Rasstätte lassen? Ein letztes Mal an diesem Tag landen unsere Rucksäcke im Kofferraum. Die Neugier besiegt ein weiteres Mal skeptische Gedanken. Das Auto füllt sich mit intensiven Gesprächen rund um die EU-Handelspolitik. Verschiedene Ansichten treffen aufeinander und verschmelzen zu einem kleinen Konsens. Zum Abschied ein verschmitztes Grinsen von Johannes: „Vielleicht treffen wir uns in Brüssel wieder.“
Bis bald.
Ines
-----------------------------------------------------------------------------
MDGs = Millennium Development Goals, Millennium Entwicklungsziele der Vereinten Nationen
Ziel 2: Grundschulbildung für alle Mädchen und Jungen dieser Welt
In den ärmsten Ländern kann nur jedes fünfte Kind die Schule besuchen. 872 Millionen Menschen in Entwicklungsländern können weder schreiben noch lesen. 2/3 davon sind Frauen. Unbeschreiblich! Dabei würde die Grundschulbildung für alle Kinder dieser Welt gerade einmal 10 Milliarden US-Dollar kosten. Das ist ungefähr die Hälfte von dem was Nordamerikaner im Jahr allein für Eiscreme ausgeben.