Reporterin: Bianca Burckhardt in Frankreich (Brive)
Unglaublich - obzwar es alle hofften, mit dem Sieg über die legendäre brasilianische Elf gerechnet hat nun wirklich niemand in Frankreich. Wie die Franzosen das Fußballwunder feierten, berichtet Bianca aus Brive.
Halbfinalfieber
Wieder ein „ganz normaler“ Spieltag letzten Samstag.
Ein ganz normaler Spieltag?
Nein, eine kleine Stadt im Süden Frankreichs weigert sich standhaft, diesen Tag als normal zu betrachten. Es ist 19.30 Uhr und die ersten Bars sind bereits mit Menschen gefüllt. Beim zweiten Versuch haben auch wir mehr Glück, werden mit Trillerpfeifen begrüßt und bekommen spontan einen Tricolor-Stempel auf den Arm gedrückt. Ich trage heute meinen blauen Rock mit einem weißen Tuch und ein rotes T-Shirt. „Allez les bleus“ rufe ich bereits vor Anpfiff.
Die Stimmung vor Beginn des Spieles ist gemischt, niemand glaubt so recht an einen Sieg Frankreichs gegen Brasilien, aber nach der ausgezeichneten Performance gegen Spanien möchte man so gerne hoffen... Es liegt ein Kribbeln in der Luft, die Spannung ist kaum auszuhalten. Dann der Anpfiff. Das spiel lässt die Emotionen hoch kochen. Frankreich vergibt so manche Chance auf ein Tor: Thierry Henry mal wieder im Abseits, ein Ball verzogen oder der Angriff doch in letzter Minute gestoppt. Erst ein kollektives „Oui, cours!“ gefolgt vom Stöhnen der Enttäuschung. Brasiliens Angriffe werden nur mit einem Auge verfolgt, man mag gar nicht hinsehen. Aber alles geht gut. Spätestens zur Halbzeit fragt man sich, was mit denen los ist. So etwas ist man von Brasilien nicht gewohnt, sie spielen echt schlecht.
Zidane ist überall, zieht an brasilianischen Spielern mit einer unglaublichen Leichtigkeit vorbei und zeit, wie Fußball gespielt wird. Von wegen zu alt! Thierry Henry hat irgendwann in der zweiten Hälfte dann doch Abseitsregeln gepaukt, zeigt einige unglaubliche Sprints, bei denen die Brasilianer nur hinterher schauen und schießt schließlich das 1:0! Jubel bricht aus, bevor wieder an den Fingernägeln genagt wird. Werden wir das Resultat 30 Minuten halten können?
Als endlich der erlösende Abpfiff erschellt, gibt es in Brive kein Halten mehr! Diese Nacht wurde gefeiert, und wie! Mein Freund und ich wollen ins Zentrum, um zu sehen, was so los ist. Wir brauchen nicht weit zu gehen. Der Hauptverkehrspunkt, eine Kreuzung im Zentrum, ist voller Menschen. Überall werden Fahnen geschwenkt, es wird gehupt, zwei im Kofferraum sitzende Leute machen La Ola, acht Leute die sich nicht kennen steigen auf ein Dach und fallen sich in de Arme, andere stehen nur in Unterhose da, jemand fährt mit seiner Trompete vorbei und lässt Siegesfanfaren erklingen, Motorräder lassen Motoren aufheulen, es wird getanzt, gelacht, gesprungen („Wer nicht springt, ist kein Franzose!“), gefeiert. Jemand zündet mitten auf der Straße ein Feuerwerk an, Autos werden wie zur Formel Eins mit Fahnen zum „Start gewunken“, es ist ein wirklich buntes Treiben heute Nacht und die Feier dauert bis in den nächsten Morgen hinein, ohne dass die Polizei einschreitet. Der Ausnahmezustand!
Aber was war das doch für ein tolles Erlebnis.
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WM-Fieber in Brive!
Dienstag, der 27.06.2006. Alles ist ruhig in Brives Straßen, nicht mal eine Katze lässt sich blicken. Zwei Personen rennen durch den einsetzenden Regen, auf der Suche nach einem Unterschlupf. Café de Paris, alles voll. Weiter geht die eilige Suche. Im Liverpool werden wir schließlich fündig: Zwei Sitzplätze und ein Riesenbildschirm. Auf TF1 läuft das Spiel Frankreich gegen Spanien, wir sind kurz vor dem Anpfiff und die Stimmung ist gespannt. Die Spanier sind ein harter Gegner. Mein Freund und ich richten uns ein und bestellen das erste Bier. Ein anderes Paar hat uns an ihren Tisch eingeladen, damit wir besser sehen können. Fußball vereint.
Der Anpfiff. Die Emotionen kochen hoch. „Der hat sich fallen lassen!“, „Abseits!", „Oha, die sind gut". Dann, das erste Tor von Spanien: eine Welle der Enttäuschung geht durch den Raum. Ist damit schon alles verloren? Die Franzosen liefern einen erbitterten Kampf und so, kurz vor der Halbzeit, die explosionsartige Entladung der gesamten Bar: „TOOOOR!“ Ribery hatte den Ausgleich errungen. Andere, die draußen auf der Terrasse gesessen hatten kamen herein, um den Grund des Lärmes zu erfahren. Schnell zauberte sich ein Lächeln auf ihre Gesichter.
In der Halbzeit wird wenig geredet, noch ist nichts gewonnen, das Konstruktionsspiel der Spanier ist stark und 45 Minuten liegen noch vor uns. Zeit für ein zweites Bier.
In der zweiten Halbzeit scheinen die Spanier noch stärker, greifen immer wieder an. Ein kollektives Stöhnen geht durch den Raum, wenn ein französischer Angriff gestoppt wird. Bis Vieira circa 20 Minuten vor Schluss das 2:1 schafft. Der Saal bebt, es wird geklatscht und geschrieen, um im Anschluss zum Fingernägelknabbern überzugehen. Die Spanier haben noch nicht aufgegeben und attackieren entschlossen. Dann in der Nachspielzeit das unglaubliche: der zu alt geglaubte und von den Spaniern verhöhnte Zinedine Zidane, "Zizou" genannt, schießt das 3:1! Ohrenbetäubender Jubel bricht aus, mein Freund und ich fallen uns in die Arme.
Während wir noch ein paar Interviews lauschen, geht draußen die Feier los: Autos hupen, Menschen kommen auf die Straßen, an einer Ecke wird ein Feuerwerk angezündet. Ich und mein Freund schließen uns an, wir drehen eine Runde im Zentrum, ich hupe regelmäßig. Ein anderes Auto kreuzt unseren Weg, die französische Flagge hängt aus dem Fenster Dann eine ganze Wagenkolonne, aus deren Fenstern und Dächern uns die erfreuten Gesichter zurufen: "Wir haben gewonnen, wir sind im Viertelfinale!".
Solch eine Atmosphäre habe ich noch nie erlebt! Und dass ich eigentlich Deutsche bin, hat in dem Freudentaumel niemand mehr bemerkt.