Ich dachte, ich explodiere
So hatte sich DiesseitsderStille seine Arbeit in der Slowakei nicht vorgestellt. Hier berichtet er, warum er so enttäuscht ist.
OK, ich geb’s zu: Ich war am Anfang echt total begeistert von meinem Projekt, wahrscheinlich hat es deshalb auch so lange gedauert, in der Realität anzukommen.
Zwar hat das Thema kein bisschen seiner Faszination eingebüßt, doch meine Beschäftigung an sich entbehrt jeder Logik.
Alles begann damit, dass mein Mentor, der auch in der Einrichtung tätig ist, mir die Ehre erteilte, in der EVS-Datenbank nach potentiellen, deutschen Entsendeorganisationen zu suchen und über diese neue Freiwillige anzuwerben. Ganze dreißig, individuell auf das Profil der einzelnen Organisationen abgestimmte Nachrichten habe ich in der ersten Woche verfasst.
Dann war Wochenende und als ich am Montag ins Büro kam und die ersten Antwortmails checken wollte, hieß es, das sei jetzt zweitrangig. Viel wichtiger sei nun, dass das Lehrbuch der slowakischen Gebärdensprache ins Englische übersetzt wird.
Da ich aus Deutschland bin und meine Mitfreiwillige Natalia aus der Ukraine kommt, bot es sich an, das Lehrbuch auch noch ins Deutsche und Ukrainische zu übersetzen. Das Buch beinhaltet an die 1000 Gebärdenbilder bzw. illustrierte Gesten mit jeweils einer kurzen Erklärung. Die Idee war einfach: Die Bilder bleiben die gleichen, die Erklärungen werden ausgetauscht.
Ich fragte nach der digitalisierten Version des Lehrbuchs am PC um die fremdsprachliche Übersetzung direkt ins Dokument unter die Bilder einzutragen.
Aus vollkommen nebulösen Gründen, wurde uns das Dokument allerdings nicht zugänglich gemacht und wir mussten das gesamte Buch neu abtippen und dann die Übersetzungen dahinter schreiben, was natürlich wenig Sinn hatte, da wir die dazugehörigen Gestenbilder, um die es ja eigentlich geht, nicht zur Verfügung hatten.
1000 slowakische Begriffe mit allen Sonderbuchstaben, Zusatzzeichen und Akzenten wurden eigenhändig von mir (ja, nur von mir, denn meine Mitfreiwillige ist faul wie die Sünde) in ein Editor-Dokument (ja, Editor, denn der PC, der uns zur Verfügung gestellt wurde, hatte nicht mal Word) eingetippt.
Selbstverständlich blieb neben der deutschen auch die englische Übersetzung von Wörtern die ich noch nie gehört hatte, an mir hängen.
Als ich nach einer Woche das Buch fertig hatte, schlug ich drei Kreuze, doch meine Erleichterung verging mir, als mein Mentor strahlend mit dem Lehrbuch der slowakischen Gebärdensprache Band 2 zur Tür rein kam.
Ich hatte mich schon während der Übersetzung des ersten Bandes gefragt, was das eigentlich soll, denn immerhin hatte ich ja gar nicht das Buch an sich übersetzt, sondern nur in einem Editordokument Wörter in drei verschiedenen Sprachen aneinandergereiht, mit denen jemand, der das Lehrbuch verstehen will, gar nichts anfangen kann.
Bevor ich mir auch noch mein zweites Bein ausreiße, wollte ich mich lieber noch mal vergewissern, ob es wirklich keine elektronische Version des Lehrbuches gibt, und erkundigte mich bei Linda, einer gehörlosen Mitarbeiterin.
Ich wollte meinen Ohren bzw. meinen Augen nicht trauen, als ihre Hände auf meine Frage hin mit der größten Selbstverständlichkeit die Wörter „Ich-schon-haben-englisch-Übersetzung-im Computer-seit Jahren“ gebärdeten.
Da ist mir dann echt die Hutschnur hochgegangen, ich bin zu meinem Mentor gerannt und habe ihn mal so richtig zur Sau gemacht, und alles was ihm zu seiner Verteidigung eingefallen ist, war, dass ich ja wenigsten die deutsche Übersetzung nicht umsonst gemacht habe, und das ganze krönte er damit, dass er meinte, ich kann jetzt den zweiten Band übersetzen, aber bitte auch auf Englisch, was mir alles nur noch schleierhafter machte.
Ich war stinksauer, ich hatte keinen Bock mehr auf den Editor und ich wollte wenigstens endlich direkt unter die Gebärdenbilder die deutschen Begriffe schreiben und nicht irgendwohin, wo sie eh keiner mehr findet.
Dennoch wurde ich dazu gezwungen auch noch die anderen 1000 Gebärden Wort für Wort zu übersetzen.
Als ich fertig war, habe ich dann Linda nach der elektronischen Fassung des zweiten Buches gefragt, sie hat sie mir sofort gegeben, nur leider ließ sich die nicht öffnen.
Mein Mentor meinte, ich sollte den Graphiker mal anrufen, ja, blöd nur, dass der gehörlos ist und kein Telefon hat. Ich musste dann bis ans andere Ende der Stadt laufen und ihn in seinem Büro aufsuchen. Der Graphiker hat mir erklärt, das Dokument sei verschlüsselt und man wird es nie wieder öffnen können und die Übersetzung war umsonst, außer es geschieht ein technisches Wunder.
Ich dachte, mich trifft der Schlag.
Als ich am nächsten Tag wieder ins Institut ging, tat mein Mentor so, als wäre nichts gewesen, ich bekam keine Aufgabe, saß meine Zeit ab und erfuhr gegen Feierabend, ich bräuchte morgen erst drei Stunden später zu kommen.
Meine Arbeitsmoral war im Arsch und ich beschloss vorerst regelmäßig später zu kommen und meine Mittagspause von einer halben auf zwei Stunden auszudehnen. Gesagt, getan und das schlimmste daran: Es fiel nicht mal auf.
Die nächsten Tage waren einfach ätzend, ich hatte meine vollkommen überflüssige Übersetzung fertig und unser Mentor vorenthielt uns die nächsten Aufgaben so lange bis Natalia ihre ebenso sinnentleerte, ukrainische Übersetzung fertig hatte.
Natalia, gnadenloses Facebook-Junkie-Opfer hat ihre Übersetzung übrigens bis heute noch nicht mal angefangen, stattdessen sitzt sie am liebsten in unserem gemeinsamen Büro und blockiert den gemeinsamen Computer. Was vielleicht unsachlich klingen mag, wovon jedoch eine besonders umfangreiche Beeinträchtigung ausgeht, ist ihr strenger Körpergeruch, den ich mittlerweile als eine derartige Zumutung empfinde, dass ich mich weigere mit ihr in einem Büro zu "arbeiten".
Stattdessen habe ich mich jetzt an einem freien Schreibtisch im Sekretariat eingerichtet, aber irgendwann hat sich dann eine andere Kollegin beschwert, dass ich ja den ganzen Tag nur noch bei ihr rumhänge und mein Mentor mir eine Aufgabe suchen soll.
Mein Activity-Agreement, also mein Arbeitsvertrag, ist zwar voll von den interessantesten Tätigkeiten doch real hing ich nur noch in den Büros rum und verbog Büroklammern. Ich habe mich noch manchmal danach erkundigt, ob von den Organisationen, die ich ganz zu Anfang meines Dienstes anschreiben sollte, sich eine gemeldet hatte, doch mein Mentor wimmelte mich dann immer ab. Ich vermute, er wollte einfach nicht zu geben, dass auch das nur eine von seinen Beschäftigungsmaßnahmen war und langweilte mich weiterhin entsetzlich.
Was dem ganzen den Hut aufsetzte, war, dass unsere nächste Aufgabe (wohlgemerkt mitten im September) "Weihnachtsgeschenke mit den Kinder basteln" sein sollte.
Ich fühlte mich auf den Arm genommen, während Natalia voll darin aufging, aus Perlen und Draht bizarre Genitalien zu formen.
Von den besagten Kindern fehlte jede Spur und Natalia hatte schon ihre siebzehnte Perlenvagina vollendet, als ich kläglich an meinem ersten und letzen Weihnachtsstern aus Stroh scheiterte.
Da auch in den nächsten (September!) Tagen keines von den bei uns betreuten Kindern Gefallen daran fand, Weihnachtsgeschenke zu basteln und ich mich künstlerisch nicht gerade überschlagen hatte, riet mir mein Mentor, ich sollte doch lieber einen Entwurf gestalten, wie man Natalias Drahtgebilde ansprechend für unseren Weihnachtsmarkt verpacken könnte.
Ich zerbrach mir ernsthaft den Kopf wie man so offensichtliche, offensive, obszöne Vulgarismen (wie sie Natalia am laufenden Meter fabrizierte) möglichst neutral, wenn nicht gar deeskalierend verpacken könnte und stellte in den nächsten Tagen mit Stift, Schere und Papier mehrere Verpackungsvarianten her.
"Integration of the volunteer into a deaf community" war der Titel meines Projekts und jetzt saß ich da und faltete einsam Pappschachteln vor mich hin.
Die einzige gehörlose, also "deaf" Person, mit der ich an dem Tag dann noch zu tun hatte, war Linda, die, als sie mich beim Falten sah, mich zu einem riesigen Schrank winkte, seine Türen weit öffnete und den Blick auf regalbretterweise übereinander gestapelte Pappschachteln freigab.
Die Gebärde "mehr nicht nötig" hätte sie sich sparen können, ich wäre am liebsten vor Wut explodiert. Meine (im Vergleich zu ihren) vollkommen dilettantischen Altpapierkartons habe ich dann mit der Faust platt gehauen.
Ich bin dann wieder zu meinem Mentor gegangen, voller Erwartung welche Unverschämtheiten von überflüssigen Aufgaben er sich wohl als nächstes einfallen lassen würde.
Den Boden unter den Füßen riss er mir damit weg, dass er den Vorschlag machte, ich könnte ja mal zur Abwechslung deutsche Entsendeorganisationen anschreiben, ob die nicht eventuell Freiwillige schicken könnten. "Damit die sich dann auch langweilen können, oder wie?" fragte ich in mich hinein oder dann fiel mir ein, dass es vielleicht ganz witzig wäre, wenn noch ein anderer EFD’ler aus Deutschland dazu stoßen würde und beschloss diese Aufgabe mit vollstem Engagement und wider allen Widrigkeiten durchzuziehen.
Was ich zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste, war, dass bis zur Einreichung der Anträge, sprich dem letztmöglichen Termin einer Zusage von einem Freiwilligen, nur noch zwei Wochen Zeit waren. Da die Zeit derart drängte, beschloss ich statt eine Mail zu schreiben direkt anzurufen; gleich die erste Organisation, bei der ich anrief, schickte ein spöttisches Lachen durch die Leitung, als ich sagte, dass die Freiwilligen binnen 14 Tagen gefunden sein müssen. Ich wurde einfach nicht ernst genommen.
Dass auch diese Aufgabe so lächerlich und aussichtslos ist, wie die ihr vorausgegangen, lässt mich ernsthaft am Sinn meines Projektes zweifeln. Das ganze würde vielleicht anders aussehen, könnte ich mit meinem Mentor offen drüber sprechen, oder hätte wenigstens in Natalia einen Interessenpartner.
Natalia hatte übrigens letzte Woche im Korridor einen Nervenzusammenbruch, zufälligerweise nachdem ich sie bei mehreren ihrer Anbaggerungsversuche habe abblitzen lassen. Sie behauptet zwar, dass sie so unglücklich mit ihrer Situation sei und deswegen zusammengebrochen sei, doch ihr Verhalten spricht eine andere Sprache:
Letzten Donnerstag hat sie erneut eine Flirtattacke auf mich gestartet, sie wollte mich einfach nicht in Ruhe lassen (wir wohnen zusammen in der gleichen Unterkunft) und in meiner Not habe ich mich dann zu einen Spontanspaziergang entschlossen, zufällig brauchte sie in genau dem Moment auch „frische Luft“ und ist zufällig die nächsten drei Stunden immer genau da lang gelaufen wo ich gerade auch war.
Ich habe mir dann in einem Laden in der Stadt Wasserbetten (nur um sie loszuwerden) angeschaut und mich ewig beraten lassen (in der Hoffnung, dass sie irgendwann vor langer Weile selbst abhaut) aber keine Chance, nicht mal bei meinem einstündigen Aufenthalt bei einem Juwelier konnte ich sie abschütteln.
Zum Schluss bin ich noch einen laufenden Gottesdienst in irgendeine Kirche auf dem Weg reingeplatzt, und staunte nicht schlecht, als nicht nur Natalia gerade das Bedürfnis nach spiritueller Vervollkommnung hatte und mir in die Kirche folgte, sondern auch mein Mentor in einer der hinteren Reihen die Predigt verfolgte. Ich hätte schreiend raus rennen können, doch sah das Gute darin, dass mich an diesem Ort Natalia wenigstens während der Messe nicht von der Seite anquatschen würde.
Es muss sich echt was ändern.
Dennoch besteht mein Hauptproblem nach wie vor darin, dass mich die Arbeit nicht ausfüllt und ich permanent unterfordert bin.
Ich habe letzte Woche versucht mir eine Nebenbeschäftigung oder einen Ausgleich zu suchen, und habe mich in verschiedenen Sprachenschulen vorgestellt und Deutschunterricht angeboten. Das Desinteresse war überwältigend, zuletzt war ich in einem Jugendzentrum um vorzuschlagen einen Deutschkurs anzubieten; ich habe mich noch nie so schäbig gefühlt, wie in dem Moment, als ich dafür zur Rede gestellt wurde, warum ich glaube, jemand hätte Interesse daran Deutsch zu lernen. Heute in der Hotelfachschule wurde ich sogar von der Direktorin dafür ausgelacht, dass ich einen Deutschkurs anbieten wollte.
Zuletzt habe ich mir einen Chor suchen wollen. Dummerweise ist mir Natalia zu meinem ersten Vorstellungstermin dort hinterhergelaufen und hat kurzerhand beschlossen auch in diesem Chor zu singen, worüber ich verständlicherweise ebenso wenig "amused" bin.
Was wird sie sich wohl als nächstes einfallen lassen?
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