Der gebrochene Regenschirm
Die Kurzgeschichte "Der gebrochene Regenschirm" (2013) von Maria Höfs handelt von der Irin Katie, die zusammen mit ihrem Mann einen Abendspaziergang durch Dublin macht. Auf dem Weg begegnen ihr typische Alltagsszenen, die den einzigartigen Charme der irischen Hauptstadt und seiner Bewohner wiederspiegeln. Am Rande des Rundgangs werden aber auch unbequeme Wahrheiten über Irland eingefangen.
Die alte Holztür von Murphy’s Pub öffnete sich schwungvoll und ließ die zwei vorübergehenden Passanten einen kurzen Blick in das beleuchtete Innere erhaschen. Ein junger Ire torkelte durch den rot gestrichenen Türrahmen ins Freie und hielt sein frisch gezapftes Pint Guinness in die Höhe. Er schwankte zu seinen drei Kumpels und grölte dabei „Leinnnnnnnnnnnster“. Seine Freunde echoten „Leinnnnnnnnnnnster“ im Chor. Immer mehr der umstehenden Iren stimmten in die Siegeshymne ein. Alle trugen blau-weiße Mannschaftstrikots, Schals und Fahnen des Leinster Rugby Teams. In der kühlen Julinacht vermischte sich das laute Gelächter der Gäste vor der Tür mit den typischen Klängen irischer Folkloremusik aus dem Pub.
Katie und ihr Mann lachten über die wilde Meute. Ihr Verdauungsspaziergang führte sie entlang der steinernen Mauern des Flusses Liffey, der Dublin in zwei gleich große Hälften teilt. Ihr schwarzer Labradorrüde Sheridan lief immer einige Meter voraus und hob sich nur im Lichtkegel einer Straßenlaterne vom Dunkel der Nacht ab. Es war schon spät an diesem Samstagabend. Die Kirchturmuhr schlug gerade halb zwölf. Der letzte Regenschauer hatte den Sommerabend merklich abgekühlt. Katie fröstelte und wollte schnell nach Hause. Die beiden wechselten die Straßenseite und bogen in eine Querstraße ein. Es war ihre übliche Abkürzung. In der Reihenhaussiedlung war es stockfinster. Die Lampen waren schon seit Langem kaputt. Nur am Ende des Weges brannte eine einzelne Straßenlaterne. Eine weitere Sparmaßnahme der irischen Regierung in der Krise. Katie klammerte sich enger an den Arm ihres Mannes. Durch die Fenster der georgianischen Häuser fiel gerade noch so viel Licht auf die Straße, dass das in die Tage gekommene Paar den Bürgersteig von der Straße unterscheiden konnte.
Plötzlich waren ein Bellen und ein Schrei in der Dunkelheit zu vernehmen. Vor Katies Augen tauchte die Silhouette einer jungen Frau auf. Sie stand regungslos da. Den Blick starr auf den Labrador gerichtet, der an ihren Schuhen schnupperte. Sie brachte kein Wort heraus. In ihrer Hand hielt die junge Frau einen schwarzen Regenschirm mit rosafarbenen Punkten. Er war völlig nutzlos, denn zwei seiner Streben waren gebrochen. Während Katies Mann den Hund an die Leine nahm, versuchte diese die Fremde in der Finsternis deutlicher zu erkennen. Die junge Frau machte einen elenden Eindruck auf die alte Dame. Das Make-Up verlaufen. Die Haare regennass. Das Kleid klamm. Ein einzelner Tropfen ran ihr das Kinn hinunter. Das junge Ding zitterte sichtlich vor Kälte und schniefte leise.
„Mein Kind, du solltest hier nicht allein herumlaufen. Das ist keine sichere Gegend.“, sagte Katie mit mütterlicher Stimme. Die junge Frau war gerade auf dem Weg zu einer Hausparty. Nur konnte sie das Haus mit der Nummer 441 einfach nicht finden. Als sie sprach, fiel Katie ihr ausländischer Akzent auf, den sie jedoch nicht sofort zuordnen konnte. Der flüchtige Blick auf die Armbanduhr verriet der betagten Irin, dass es bereits kurz vor Mitternacht war. In der dunklen Straße war außer ihnen niemand zu sehen. Ein Kopfschütteln. Katie konnte das junge Ding unmöglich allein durch die Straßen von Rialto irren lassen. „Mein Kind, ich helfe dir beim Suchen. Sonst passiert dir hier noch was.“, sagte sie besorgt.
Abrupt ließ die Mittfünfzigerin ihren Mann mit Sheridan stehen und lief eilig die Häuser ab. Die junge Frau hatte Mühe mit ihr Schritt zu halten und wollte sie wiederholt zur Umkehr bewegen. Wie im Wahn rannte Katie immer weiter. „Welche Hausnummer suchst du? Stimmt, stimmt, die Nummer 441.“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu der Fremden. Nach einigen hundert Metern fanden sie schließlich die Tür mit der Nummer 441. In eine Reihe mit Dublins berühmten bunten Türen gehörte diese jedoch nicht. Die Tür war schlicht und schwarz. Überschwänglich bedankte sich das Mädchen mit Akzent für die Hilfe der alten Irin. Jetzt konnte Katie ihre Neugier nicht länger zügeln und fragte interessiert: „Mein Kind, wo kommst du eigentlich her?“ Die junge Frau berichtete, dass sie aus Deutschland komme und wegen eines Praktikums für sechs Monate in Dublin lebte. Sie war ein wenig traurig, dass ihr Praktikum bereits in einem Monat vorbei sei. Nie zuvor hatte sie so viel Gastfreundschaft und Lebensfreude, aber vor allem so gutes Bier genossen wie in Irland. Mit diesen Worten und einem erleichterten Lachen verschwand die junge Frau hinter der pechschwarzen Tür. Da musste auch Katie laut lachen. Ihr Gelächter hallte in der düsteren Stille der Nacht.
Am Sonntagmorgen genoss Katie ein typisches irisches Frühstück mit Schwarztee, Rührei, Tomaten und Würstchen. Als sie die Sonntagszeitung durchblätterte, fiel ihr Blick zufällig auf einen kleinen Artikel in der Seitenspalte. In dem Text hieß es, dass am Vorabend eine junge Frau auf ihrem Heimweg im Stadtteil Rialto überfallen worden sei. Im Krankenhaus sei sie später ihren schweren Stichverletzungen erlegen. Genauere Angaben über den Hintergrund der Tat oder das Opfer fehlten. Darunter aber war ein winziges Foto des Tatortes abgebildet. Eine dunkle Straße in einer Reihenhaussiedlung. Auf dem Bürgersteig lag ein Regenschirm mit zwei gebrochenen Streben. Mit Gänsehaut dachte Katie an ihre prophezeienden Worte.