Davon, wie man mit Träumen auf die Fresse fliegt
Ein Jahr Freiwilligendienst in Sofia, Bulgarien, aus der Retroperspektive.
Jeder Mensch hat Träume. Und ich rede jetzt nicht von den Träumen, die uns morgens fragend zurück lassen, à la: "warum hat ein Eichhörnchen einem Hasen mit ner Möhre was auf dem Kopf gegeben?" Ich rede von den Tagträumerein, die meist zu blöd sind, als dass wir sie aussprechen würden. Ich, zum Beispiel, träumte als Grundschuldkind davon, dass Nick Carter von den Backstreet Boys sich mit seinem kleineren Bruder Aaron ein Duell um mein Herz liefern würde. Ein paar Jahre später war mein liebster Tagtraum, dass ich gefeierter internationaler Rockstar wäre, mit achtzehn Jahren träumte ich davon, mein Elternhaus zu verlassen, um in die weite Welt zu ziehen, und Liebe und Frieden zu verbreiten; quasi die Welt in ihren Grundfesten zu ändern. Und, was soll ich sagen? Weder Nick, noch Aaron haben je an meine Türe geklopft und auch ein Rockstar wurde ich nie und ja, in die Welt zog ich aus, und ob ihr's glaubt, oder nicht- geändert, verändert, habe ich sie nicht! Viel mehr musste ich dafür kämpfen, dass sie mich nicht ändert. Damals, in Bulgarien.
Sofia, Juli 2008, 35°, klarer Himmel. Vor einer halben Stunde ist eine Maschine aus Deutschland gelandet, die meisten Menschen haben das Flughafengebäude verlassen. Die meisten. Nur auf den Stufen des häßlichen Gebäudes aus UdSSR Zeiten sitzt ein kleines Mädchen, in zu dicker Kleidermontur, mit noch mehr Klamotten und großen Träumen im Gepäck. Das Mädchen, das bin ich. Und so hatte ich mir die Sache nicht vorgestellt. Dass ich schwitzend in der Fake-Lederjacke, wie sie damals alle hippen Kinder trugen, mir ein Loch in den Bauch warten würde. Das war meine erste Enttäuschung in Bulgarien. Die erste von vielen. Und eigentlich stimmt das nicht.
Meine erste Enttäuschung war, als ich die Zusage bekam, dass mein EVS-Aufenthalt genehmigt sei und ich wirklich im Juli loslegen könne und ich meinen Vater frug: „Papa, wo liegt Sofia?“ Und Papa sagte: „Das ist die Hauptstadt von Bulgarien.“ Ich sagte: „ach so, das liegt neben Polen, oder?“ Und Papa antwortete: „Nein, das liegt unter anderem neben der Türkei und Serbien.“ Da wurde mir klar, dass die Sommer heiß werden würden. Ich hasste damals Hitze.
Gut, mein Boss hat mich dann irgendwann mal abgeholt und in meine Unterkunft gefahren - und ich baue jetzt mal einen kleinen Zeitraffer an, oder wollt ihr wirklich wissen, wie mein Zimmer aussah und so? Eben! Eben, also ein Jahr EVS in wirklich kurz: Ankunft, Unterkunft, On-arrival-Training, Freiwillige kennen lernen, Leute kennen lernen (nicht, dass Freiwillige keine Leute wären), Festival in Serbien, Urlaub in Obzor, Urlaub in Deutschland, Sylvester in Bulgarien, Mid-term Training, Ausflug nach Rila, Urlaub in Mazedonien, Ausflug nach Koprivstica, Urlaub in Varnas, Abschied, Abflug, Ankunft in Deutschland. Ach ja, und dazwischen immer Arbeit in meinem Projekt. Also, dass, was eigentlich wesentlicher Teil im EVS sein sollte.
Meinen EVS verbrachte ich in einem Heim für geistig behinderte Kinder. So hieß es jedenfalls in der Projektbeschreibung, nur dass die "children", eben eher teenager waren, zum Teil sogar älter als ich - eine weitere Enttäuschung, denn das machte meinen Job sehr viel härter und hätte ich das vorher gewusst, hätte ich mich nicht auf das Projekt beworben. Ja, ja, hätte, hätte, Fahrradkette. Ich arbeitete also mit halbstarken Halberwachsenen in einem Kinderheim am Rande Sofias. Ich merkte sehr bald, dass mein EVS nicht ganz so verlief, wie ich es mir erträumt hatte. Das fing damit an, dass ich erst mal einen Monat in Sofia mit Rumgammeln verbrachte, bevor ich überhaupt anfangen durfte, zu arbeiten. Warum ist mir bis heute nicht so ganz klar geworden. Angeblich weil ich die Sprache nicht beherrschte. Trotzdem schickte man mich mit den Teenagern des Projekts nach Obzor, einer Küstenstadt Bulgariens, in den Urlaub. Ich habe selten etwas so Tristes und Trauriges gesehen. Geplant war ein elftägiger Aufenthalt dort. Ich hielt es nur wenige Tage da aus, denn ich kam ganz gepflegt mal gar nicht klar auf die Gesamtsituation.
In Sofia dann wieder angekommen durfte ich tagtäglich mit meinen zwei Kolleginnen zu dem Heim laufen und die Jugendlichen bespaßen. Was wir da machten, war der Heimleitung übrigens so ziemlich egal, bei den sporadischen „Team-Meetings“ malte die Chefin, deren Namen übersetzt bezeichnenderweise Tropfen/ Träne, bedeutet, traurige smileys auf die Zettel. Und die Teenager hatten auch sehr oft kein Bock auf uns. Hatten wir jedenfalls den Eindruck. Wir versuchten, ein abwechslungsreiches Angebot zu geben, viele Dinge wurden uns aber abgeschlagen mit dem Argument, sie wären zu aufwendig in der Durchführung – verständlich, so hatten wir u.a. vorgeschlagen, mal einen Spaziergang im nahe gelegegenen Park zu machen, wahrlich ein Ding der Unmöglichkeit!
Gut, das hört sich jetzt alles echt negativ an. Aber ich will einfach keine Lügen erzählen und alles schön reden. Dem ist nicht so. Von den zwanzig Freiwilligen, aus unterschiedlichstens Ländern, mit denen ich in Sofia im engeren Kontakt standen, haben sieben den EVS vorzeigt beendet. Immer war Unzufriedenheit mit dem Projekt einer, wenn nicht der Grund, und auch meine Kollegin und Freundin Marion verließ unser Projekt drei Monate früher. EVS-Projekte werden gerne blumig beworben, das man viel lernen könne, dass man in einem Team arbeite, mit Sspaß und Abwechslung. Deswegen dachte ich auch, dass wenn ich mit viel Liebe und positiver Energie an die Sache herangehen würde, die Welt besser würde und ich das Leben der Teenager für immer zum Guten verändern würde. Ich musste auf die harte Tour lernen, dass nur, weil ich etwas liebe, dass nicht heißt, dass es andersrum genau so ist.
In solchen Momenten, in denen mein Projekt mich ankotzte, war ich unglaublich froh, um die Freunde, die ich in Sofia gefunden habe. In einem Jahr Bulgarien lernte ich zig Menschen kennen, die mal mehr und mal weniger Eindruck hinterließen. Aber berührt haben sie mich alle. In diesem Jahr lernte ich so viel über Gastfreundschaft und Lebensfreude. Davon, dass alle Menschen doch die gleichen Träume und Ziele haben, Liebe und Frieden das ist, was uns antreibt. Dass Herkunft dich nur begrenzt ausmacht und wir im Grunde auch nur Menschen sind. Ich hatte so viel Spaß in Bulgarien. Das Wetter war toll dort, die Menschen liebenswürdig, also, die meisten. Das Essen war grandios und ich liebte, liebte die Zeit in Sofia. Ja, mein Projekt nervte mich oft. Aber das Drumherum entschädigte mich für vieles. Ich habe gute Freunde gefunden, die immer für mich da waren, mit denen ich noch heute in Kontakt bin. Und ich kann heute auf zehn Sprachen deine Mutter beleidigen (seltsam, dass in Bezug auf Sprachen Schimpfwörter immer das erste sind, was man lernt). Es ist wirklich so belanglos, welcher Nationalität du angehörst, was dich ausmacht ist dein Inneres. Und da lässt sich bei fast jedem Menschen etwas Nettes finden. Egal, ob Franzosen, Dänen, Spanier, Italiener, Schweden, Tschechen, Österreicher, Bulgaren, Schweizer oder was auch immer- die Hauptsache war, dass man bei dem ein oder anderem, meistens anderem Bier, sich austauschen konnte. Und merkte- hey, Du bist wie ich. Ein Mensch... Ich könnte ewig an die Zeit zurück denken und zig Anekdoten erzählen, von Freundschaften, die an Bartheken geschlossen wurden und bis heute halten, von Nachbarn, die mit Glocken in dein Leben klingeln, von einem Telefonat, dass wortwörtlich mein Leben rettete, von Küssen auf der „Lover's Bridge“ in Sofia und Abschiedstränen im Regen. Doch dafür reicht der hier gegebene Rahmen nicht, bei Interesse, meldet euch und ich lass euch eine Kopie meines damaligen Tagebuchs zukommen (na ja, das werde ich wahrscheinlich nicht tun, aber ihr könnt es gerne versuchen). Was ich eigentlich sagen wollte, also, wenn ich mich kurz fassen könnte: der EVS war nicht annähernd so, wie ich es mir vorgestellt habe. In keiner Hinsicht. Ich wra oft enttäuscht von meinem Projekt. Doch ich habe vieles, vieles gelernte. Über mich.
Dass ich vielleicht nicht die Welt ändern kann, aber ich verhindern kann, dass sie mich verändert. Ich musste hart dafür kämpfen, an das Gute zu glauben und positiv zu bleiben. Den Enttäuschungen meines Projekts musste ich mich stellen und fand heraus, dass ich auch den kleinen Erfolgen etwas abgewinnen konnte. Als ich kurz vor der Abreise stand und ich mich bei den Jugendlichen verabschiedete, merkte ich, dass meine Arbeit nicht vergebens gewesen war. Nämlich, als Boika, ein Mädchen, dass zwischenzeitlich mit Scheren auf mich losgegangen ist, weinte, weil sie wusste, ich würde nicht mehr wieder komme. Dies hat mich mehr bewegt und mehr bestätigt, als alle Reden meines Bosses und meiner Freunde. EVS ist, was Du draus machst. Ehrlich. Mich hat es Demut und Respekt vor dem Leben und den Menschen gelehrt. Ich möchte diese Erfahrung um nichts in der Welt wissen. EVS ist die Geschichte davon, wie man mit Träumen auf die Fresse fliegt und merkt, dass in der Realität zu leben auch ganz schön sein kann!
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