Geteilter Blick
In diesem Gedicht geht es um meine Auffassung von einem Teil der gemeinsamen Geschichte Vietnams und Deutschlands.
Ich bin in Deutschland aufgewachsen, aber dann auch irgendwie nicht, da es eine starke vietnamesische Community gab.
Geteilter Blick
1989 – ich wechselte die Seiten
von Fernost nach West, es waren umbrüchige Zeiten
von Vietnam nach Deutschland und das in einem Flug
als wär der Himmel für ein Kleinkind nicht schon wunderlich genug
landeten wir zu dritt in einem zweigeteilten Land
meiner Mutter war das irgendwie aus der Heimat schon bekannt
meine Schwester sah unseren Vater und hat ihn nicht erkannt
denn er stand in der DDR am fließenden Band
Aber bald fiel die Mauer, doch sie warf weiterhin Schatten
Denn in den Köpfen mancher Menschen gingen beschränkte Gedankengänge von statten
Drehten „rewind“ an alten Parolen plappernden Platten
Meine Eltern ahnten Böses mit den Körpersprachkenntnissen, die sie hatten
Doch sie machten weiter, Rassenhass hat ihren Zukunftsblick nicht verschoben
Bambus beugt sich mit dem Wind, doch er wächst immer nach oben
Viele Jahre sind vergangen, heute schauen sie zurück
Mit gealterten Händen, mit geteiltem Blick
Und so wuchs ich auf und lernte akzentfreies Deutsch
Lernte zu unterscheiden zwischen „mir“ und „euch“
Fing fast an zu glauben, Vietnamesenblut wär‘ verseucht
Dabei hab ich mehr mich selbst als irgendwen sonst getäuscht
Und meine Wurzeln wuchsen weiter wie meine Neuronen
Was meine Eltern investierten, soll sich für mich heut lohnen
Mein Durst nach Wissen ist „der Quell der Integration“
Das sagt man – meine Mitschüler waren meine Deutschnachhilfe gewohnt^^
Zwei Welten zu kennen ist wie ein Batzen Gold
Es glänzt wie Glück, doch nicht jeder hebt den schweren Schatz mit Erfolg
Ich ging einfach nur weiter, manchmal schaute ich zurück
Mit zerreißenden Fragen, mit geteiltem Blick
Heute seh ich Bilder und erkenne immer deutlicher Parallelen
Hier imitier ich unbewusst die Dinge, die mir aus Vietnam fehlen
Zeischen Roggenbrot und Reisfeld wandern zwei halbe Seelen
Und nach 22 Jahren kann ich die Briefe meines Opas nicht mehr zählen
Ist es Schicksal, ist es Rechtschreibung oder ist es nur Zufall?
Oder warum nutzt man nicht im Deutschen das Wort „Heimat“ auch im Plural?
Hin und her, drauf und drüber, ist Zuhause nur 1 Ort?
Wären Gedanken frei und Freiheit grenzenlos, wär „Heimat“ kein lokal begrenztes Wort
Noch immer hab ich viele Fragen, manchmal seh ich plötzlich die Antwort
Trainier täglich meine Augenmuskeln und betreib Nachdenken… als Randsport
Aber ich gucke nicht mehr traurig, ich schau nur kurz zurück
Aus zwei Perspektiven – in einem einzigen Blick.
©Fung