Brief an E.
Von langen Nächten und Musik, von Euphorie und Nostalgie, von jauchzenden Herzen und zerbrochenem Glück
Hey E.,
wenn ich die vielen Briefe die ich dir schreibe, mit dem Herzen anstatt dem Kopf schreiben würde, wäre ein „Hey“ schon viel zu banal. „Wunderbarer“ oder „Einzigartiger E.“ würde viel besser passen, oder wenigstens „Lieber E.“ Aber das was wir uns aufgebaut haben ist so empfindlich, dass jede Annäherung zerstören könnte, was die Zeit so behutsam zusammengeflickt hat. Du würdest nicht wagen aus deiner so mühsam kreierten Gleichgültigkeit auszubrechen und die Scherben einzusammeln, die du damals hinterlassen hast.
Erinnerst du dich an die unzähligen Nächte am Seineufer, in denen wir über den Weltfrieden diskutierten und die mir Vorträge über den Altruismus von Mikrobakterien hieltst? Ich hab gewiss nicht alles verstanden von dem was du mir erzählt hast, aber ich habe jedes Wort in mir aufgesogen, wie ein Stück Land, das zu lange keinen Regen gesehen hat. Die Melodie deiner Stimme, der Rhythmus deiner Worte haben mich direkt ins Herz getroffen. Deine geheimnisvolle Art hat mir den Atem geraubt und deine Musik den Verstand. Wenn wir die ganze Nacht am Seineufer saßen, ich mit einer Flasche Wein in der Hand und du mit deiner Gitarre, daneben einen Flachmann voll Whisky, dann war die Luft so elektrisiert, dass man es fast knistern hören konnte. Wenn du angefangen hast zu singen, mit deiner tiefen, rauen Stimme, dann ist die Zeit für einen kurzen Moment stehen geblieben. Die Spitzen deiner braunen Lederschuhe stets zu mir gewandt, den Kopf leicht nach hinten geneigt und die Augen geschlossen. Jeder der ein bisschen Ahnung von Musik hat ist stehengeblieben, um dir zuzuhören. Aber meistens warst du so vertieft in deine Lieder, dass du gar nicht bemerkt hast, wie du die Welt verzauberst. Manchmal hast du auch für mich gesungen. Darüber, dass es dir leidtut und über das Echo meiner Schritte im Flur, als ich die Wohnungstür hinter mir zuschlug und mit meinem Rucksack auf dem Rücken noch einen letzten Blick in die Richtung deines Fensters warf. Ich wusste nicht, dass du mich beobachtet hattest. Deine Lieder sind immer so traurig, ein bisschen melancholisch. So wie du auch. Und trotzdem machen sie mich glücklich. Ist das nicht paradox?
Erinnerst du dich an die Nacht in der wir Rashid getroffen haben? Den traurigen Musiker mit den ungebrochen fröhlichen Liedern. Ihr habt zusammen gesungen als hättet ihr nie etwas anderes getan. Die Musik, die in jener Nacht gespielt wurde, hat etwas in mir geöffnet. Endorphine freigesetzt, mir das Gefühl gegeben zu fliegen. Wir waren so euphorisch, dass du fast deine Gitarre im Taxi vergessen hättest. Als wir die Treppen in deine Wohnung hochstiegen, hast du immer noch gesummt. Mir war so leicht ums Herz wie selten zuvor. Du hast eine alte Schallplatte von Leonard Cohen aufgelegt, dir einen Joint gedreht und mir Geschichten aus deiner Vergangenheit erzählt. Wir standen auf dem Balkon mit den geschwungenen Gitterstäben und lauschten schweigend der Musik, die leise aus dem Wohnzimmer drang. Du hast mir unentwegt in die Augen geschaut und ich konnte deinem Blick kaum standhalten. Als du den letzten glimmenden Rest der Zigarette am Geländer ausdrücktest, spiegelten sich schon die ersten Sonnenstrahlen in den Fenstern der umliegenden Häuser.
Sag mir, erinnerst du dich an all diese Momente des Glücks und der Vollkommenheit? An jene sorglosen Tage und Nächte, an denen es noch keine Scherben einzusammeln gab und dieser Brief mit „Wunderbarer“ oder „Einzigartiger E.“ begonnen hätte? Ich werde sie nie vergessen.
Alles Liebe,
V.