12. Platz: Dort, unter dem blauen Vorstadthimmel
Die 22-jährige Sarah blickt zurück auf ihre Zeit als Freiwillige in Liverpool, der Stadt der Beatles, der Jugendkultur und des Umbruchs. Es ist 2007 und die Stadt ist im Wandel, ebenso wie ihre Bewohner.
Ich summe leise. Auch wenn es eigentlich keinen gibt, der mich gerade hören könnte. Denn die Penny Lane ist menschenleer. "Penny Lane is in my ears and in my eyes. There beneath the blue suburban skies I sit and meanwhile back." In den Außenbezirken Liverpools lebten in den 50er Jahren zwei Jungen und sahen jeden Morgen auf ihrem Schulweg diese eine Straße. Sie hießen John und Paul. Gesäumt von den üblichen roten Liverpooler Backsteingebäuden und länger als ich sie mir vorgestellt habe, liegt sie im Stadtteil Mossley Hill, fernab von Touristen. Und auch jetzt, mehr als ein halbes Jahrhundert später, ist der Himmel blau gefärbt und die wenigen Wolken scheinen sich keinen Zentimeter in der klebrigen Sommerhitze Liverpools zu bewegen. Die Straße ist so unspektakulär wie eine Straße nur sein kann, und doch ist sie weltberühmt.
Wavertree ist ein altes Arbeiterviertel Liverpools in dem heute besonders die Studenten der 4 Hochschulen der Stadt wohnen. Auch ich zähle mich zu den Glücklichen, die hier wohnen. Unweit vom Elternhaus von George Harrison lebe ich ein halbes Jahr als Freiwillige des Roten Kreuzes. Hier ist es keine Seltenheit, dass Menschen abends im Schlafanzug über die Straße laufen und sich in ihrem starken Liverpooler Akzent, Scouse genannt, Sätze zurufen, von denen ich nur Bruchteile verstehen kann. Es ist schwer die Liverpudlians zu beschreiben. Es wäre untertrieben zu sagen, sie seien direkt. Die „feine englische Art“ wurde hier jedenfalls nicht erfunden, soviel steht fest. Und doch scheinen mich alle zu mögen, denn ich werde von Fremden auf den Straßen „love“ genannt. Es klingt eigentlich mehr nach „luv“, aber das möge man den Liverpudlians verzeihen. Es hat auch nicht lange gedauert, bis ich verstanden habe, dass jedes Mädchen in Liverpool so genannt wird. Trotzdem, in keiner anderen Stadt hat mich ein Busfahrer so offensichtlich durch seinen Rückspiegel angeflirtet wie hier. Und nirgendwo anders hätte ich das so natürlich gefunden wie hier. Die Menschen sind sie selbst, und das ganz selbstverständlich. „Scousers“ werden sie auch aufgrund ihres Akzentes genannt, der sie so einmalig macht aber ebenso so fremd erscheinen lässt. Scouse ist eigentlich ein Gericht, eine Art Eintopf.
Das Gericht kann aber auch die Vielfalt Liverpools ausdrücken, denn Menschen von überall her leben in der Stadt. Doch auch wenn sie noch so unterschiedlich sind, haben viele zumindest eines gemeinsam: Sie sind entweder Fans vom Liverpool FC oder vom FC Everton. Diese Fanzugehörigkeit kann die Stadt spalten, aber auch einen. Im August 2007 wird der 10-jährige Rhys Jones auf offener Straße unschuldig Opfer im Kampf zwischen zwei rivalisierenden Jugendgangs und dabei erschossen. Rhys war Fan vom FC Everton. Doch alle Fanzugehörigkeiten und Rivalitäten waren vergessen als kurz nach seinem Tod, vor einem Spiel des FC Liverpools im Anfield- Stadion, zum ersten Mal überhaupt die Hymne vom FC Everton in Gedenken an Rhys gespielt wurde.
Es ist Sommer 2007. Ich stehe auf dem Turm der Anglican Cathredal und schaue über die Stadt. Von der Irish Sea weht ein Wind über den Fluß Mersey nach Liverpool herüber. Riesige Kräne ragen in die Luft und lassen die Stadt von oben wie eine riesige Baustelle aussehen. Liverpool ist im Umbruch. Für den Titel „Europäische Kulturhauptstadt“ des Jahres 2008 ist ein Imagewandel angestrebt. Hin zur pulsierenden, jungen, kulturellen Stadt. Doch das ist Liverpool längst. Dafür braucht die Stadt den Titel nicht. Es gibt zahlreiche junge Bands, die in Liverpools Clubs spielen und die Docks im Hafen sind zum Weltkulturerbe erklärt. Die jungen Briten, die ich hier kennenlerne, bilden eine ganz eigene Jugendkultur. Vorlaut, bunt und schrill. Sie sind moderne Hippies.
Im Shop der Kunstgalerie Tate Liverpool fällt mir eine Postkarte in die Hand. Sie zeigt nicht die Beatles, auch nicht den Fluß Mersey, die Albert Docks oder das Pier Head, sondern ein Liverpool als Baustelle, zugebaut mit Kränen. Der Liverpooler Humor macht eben vor nichts halt. Doch eigentlich zeigen die Kräne doch nur, wohin Liverpool wirklich will, oder? Nämlich hoch hinaus.