[1/3] 2.511 Kilometer
(Teil 1 von 3) Siebzehn Tage, sieben Länder, elf Orte, pi mal Daumen drei Stunden Schlaf insgesamt, eine Millionen Bilder, Menschen und Eindrücke, eine veränderte Lena. Das ist meine Bilanz.
Wie geht’s euch, Freunde der Sonne? Ich bin zurück von meiner verrückten Balkanreise. Mein Geburtstagsgeschenk an mich selbst. Innerhalb von zweieinhalb Wochen habe ich mit meinem Rucksack einen Drittel des Kontinents bereist. Zweieinhalb intensive, schlaflose, aufregende, stressige, unglaubliche und unglaublich tolle Wochen. Ich habe die wunderschönsten Orte gesehen, die seltsamsten Dinge ausprobiert, die tollsten Leute kennengelernt… oh mann, mich hat es echt erwischt, ich liebe Reisen! Holt euch Popcorn und eine Decke, denn es ist so viel passiert, dass das jetzt etwas dauern wird.
La multi ani!
Los ging es… in Cluj, denn bevor das Ganze überhaupt starten konnte, wurde Dora achtzehn Jahre alt. (Ja, unfassbar, dass so ein cooles und reifes Mädchen einen Monat jünger ist als ich!) An meinem Abreisetag. Was bleibt einem da anderes übrig, als mit ihr, Bogdan, “der besten Pizza der Stadt” (wenn das wahr ist, tut es mir sehr leid!), Tinder-Experimenten und einer 2008-Playlist reinzufeiern?
Oh, und pünktlich am Geburtstag wurde sie an ihrer Wunschuni angenommen. Ich bin so stolz! Und sie wird nur eine Stunde Fahrt von Datteln entfernt studieren. Zum ersten Mal freue ich mich zumindest ein wenig auf die Zeit nach dem Projekt.
Erster Streich
Verkatert und unausgeschlafen ging es dann nach Timisoara, erster Halt. Eigentlich liebe ich die Stadt, aber... kalt und nass war es an diesem Tag, und vor allem traurig. An jeder Ecke lauerten die Geister von meinem lieben Csemete Squad von unserem Besuch im Oktober. Ich hörte beinahe ihre Stimmen, als ich am Bahnhof vorbeilief, an dem Alkie fast darauf bestand, nach der Nachtfahrt zum Apartment zu laufen - im botanischen Garten, in dem ich auf dem Weg zum Kommunismusmuseum mein erstes Selfie mit Juliana schoss - an der Fontäne, an der ich mit Jojo wartete, bevor wir uns heiße Schokolade holten - vor der bunten Bank, auf der wir alle posierten. So viel hat sich seitdem verändert.
Da war ich beinahe froh, früh abends in den Zug nach Belgrad zu steigen (in dem mich ganze drei Passkontrollen erwarteten, wow!). Im Zug kam ich mit einer Chinesin und einem (sehr sehr attraktiven) Dänen ins Gespräch, zum Glück, denn ohne sie hätte ich meine Kamera dort vergessen! So lief ich mit den beiden in die Innenstadt und wir trennten uns etwa 50 Meter vor meinem Hostel. Gerade dort hätte ich jedoch Hilfe gebrauchen können, denn… das Ganze lag über einem aggressiv werbenden Stripclub. Wow. Der erste Eindruck war purer Schock, aber es stellte sich heraus, dass das Hostel eigentlich sehr modern und die Besitzer super fürsorglich waren. Also alles gut.
Regen
Trotzdem hatte ich einfach Pech mit dem Wetter (ein Schicksal, das mich die nächsten Tage begleiten würde). Strömender Regen und Eiseskälte erwarteten mich Sonntagmorgen, und glaubt mir, dafür hatte ich nicht gepackt. Muss man sich halt mit Stoffsneakern und grüner Sommerjacke durchkämpfen. Darüber hinaus war auch noch Ostersonntag, und der Balkan nimmt Religion mehr als nur ernst - es war also alles geschlossen! Muss sagen, abgesehen von dem günstigen Restaurant, in dem ich Cevapcici, Urmašica und serbischen Kaffee probierte, war das ein deprimierender Vormittag.
Danach konnte es nur besser werden. Auf der Walking Tour kam ich ins Gespräch mit Carla aus Spanien - die ihr Erasmus in Oradea macht! Glück muss man haben. Wir verbrachten den Rest des Tages miteinander, besuchten eine ziemlich gruselige Ostermesse, machten uns lustig über die enorm freundlichen Schilder an der Schlossmauer (“Walking here is deadly!”) und fuhren schwarz zum Kalemegdan Fortress. Ohh, ich muss euch sagen, der ist wunderschön. Ich konnte meinen Augen kaum trauen… klare Aussicht auf die Donau und die Skyline von Neu-Belgrad. Und wir hatten sogar ein paar Sonnenstrahlen.
Kochkünste
Zurück im Hostel traf ich in der Küche aus Jaime, er kommt aus Spanien, macht aber gerade Erasmus in Thessaloniki. Und von ihm muss ich euch erzählen. Normalerweise kommt man mit anderen Backpackern und Reisebekanntschaften in der erste Stunde nicht über den “Woher kommst du, wohin gehst du noch, was machst du hier und dort” Smalltalk hinaus. Nicht aber mit Jaime. :D Von der ersten Sekunde an, bevor wir überhaupt unsere Namen kannten, klickte es und wir verstanden uns bereits wie jahrelange Freunde. Am Ende dieses Abends schmerzten meine Rippen vom ganzen Lachen… der Junge wollte was kochen, kaufte dafür einen ganzen Liter Öl und schüttete einen Drittel davon in die Pfanne. Das wurde zum ersten von einem Dutzend Insider. Wir beschlossen, die Stadt noch einmal bei Nacht zu erkunden - wenn ich dachte, der Kalemegdan wäre schön am Tag, bei Nacht ist er atemberaubend!
Montagmorgen war zumindest der Regen weg. Ich sah den Green Market und lief über die Brücke nach Neu-Belgrad, eine komplett andere Welt. Es ist schon ein seltsames Gefühl, den Kommunismus und die Kriegszeiten praktisch anfassen zu können. Ich hörte auch von einer “alternativen Tour”, die allerdings nicht allzu aufregend war - hauptsächlich zeigte uns der Guide Graffitis. Zurück im Hostel waren vier neue Mädchen angekommen - eine davon Céline vom On-Arrival! Ich fass es nicht.
Belgrade nightlife
Jaimes und mein Plan war es abends, das berühmte Nachtleben in Belgrad zu erkunden. Davon bekamen wir allerdings nicht viel mit. :D Am Ostermontag war alles ausgestorben. Nun, alles bis auf den Stripclub unter unserem Hostel, der versuchte, uns anzuwerben - wir waren versucht, aus Spaß reinzugehen und mit bulgarischen Leva zu zahlen, aber es wäre nur für mich, die “Lady”, kostenlos gewesen... trotzdem liefen wir bis drei Uhr morgens durch die Stadt und redeten ohne Pause. Und das war es auch, denn Jaimes Bus nach Bulgarien fuhr um vier. Aber einen Besuch in Spanien hat er mir versprochen!
Danach habe ich meine Busreise nach Sarajevo fast komplett verschlafen - was eine Schande ist, denn was ich mitbekommen habe an Szenerie, war wunderschön. Und am in Sonnenlicht getauchten Sarajevo vorbeizufahren ist was ganz Anderes…
Frohe Weihnachten?
Tja, da war ich noch guter Dinge, doch so ziemlich in der Sekunde, in der ich aus dem Bus stieg, verwandelten sich diese Sonnenstrahlen in strömenden Regen. Und dieser wurde gegen Abend, und das ist kein Witz, zu dichtem Schnee.
Ich dachte, ich fall vom Glauben ab in meiner Sommerjacke und meinen blauen Stoffsneakern. Vor weniger als einer Woche liefen meine Freunde noch im T-Shirt durch die Innenstadt. Carla kam am Abend im Hostel vorbei, um der Kälte zu entkommen bevor ihr Bus um Mitternacht fährt, und mit zwei Ägyptern sahen wir alle recht verzweifelt zu, wie sich draußen langsam eine dicke weiße Decke auftürmte.
Der Schnee sollte meinen ganzen Aufenthalt lang nicht aufhören zu fallen - als ich am nächsten Tag aufwachte, lag er wadenhoch und die Stadt war weiß gekleidet. Meine Güte. Damit habe ich nun garantiert nicht gerechnet und noch viel weniger dafür gepackt. Aber hatte ich eine Wahl? Letztendlich zog ich jedes Kleidungsstück, das ich dabeihatte, übereinander an - buchstäblich, ich ließ meinen Rucksack leer bis auf ein bisschen Unterwäsche zurück -, band mir Plastiktüten um meine Sneaker und eine Amerikanerin namens Esther lieh mir ihren Schal. Ich hätte sie küssen können vor Dankbarkeit… mit all den Schichten war mir draußen zwar nicht mehr kalt, aber angenehm würde ich es auch nicht nennen. Aber so einfach mache ich es dem Wetter nicht, besonders nicht, wenn Sarajevo die Stadt ist, auf die ich mich am meisten gefreut habe!
Das Beste draus machen
Es ging also irgendwie. Und ich ärgerte mich wirklich, denn Sarajevo ist so schön, wie ich es mir erträumt habe. Den Namen “Jerusalem Europas” hat sie verdient. Die westliche Innenstadt wirkt wie ein großer türkischer Basar, die östliche hingegen wie eine Einkaufsstraße in Wien. Ich muss unbedingt eines Tages zurückkehren, mit überlebbaren Temperaturen hätte ich mich stundenlang treiben lassen können.
So brachte es mich stattdessen auf Empfehlung Fabians ins War Childhood Museum. Das passte genau zur Kälte. Wow. Seit meinen Sommerkursen in New York City kann ich Museen etwas abgewinnen, aber das war anders als alles, was ich je erlebt habe. Auf einem Gang werden 50 Objekte von Überlebenden ausgestellt, die zur Zeit des Bosnienkrieges Kinder und Jugendliche waren. Ein Audioguide erzählt dann kurze Geschichten dazu. Ein rotes Kleid, ein Tagebucheintrag, Ballettschuhe, ein Fahrrad… ein blauer Plüschhase hat mir plötzlich die Luft genommen und die Tränen in die Augen getrieben.
Die Spuren des Kriegs sind nur 21 Jahre später überall in Sarajevo zu finden. In eingerissenen und von Bombem zerstörten Fassaden, in den Rosen vor der Kirche, in so vielen Mahnmälern und Plakaten. Jeder Erwachsene, dem ich über den Weg lief, hat diesen Krieg miterlebt.
Das ist eine von etwa einer Millionen Aspekte, die zeigen, dass Brücken und offene Grenzen uns alle bereichern, wie einfach sie Xenophobie und Vorurteile abbauen und Solidarität fördern. Und das War Childhood Museum plant eine Ausstellung über syrische Kinder.
Thank you for travelling with... bosnische Bahn
Nun, Schluss mit dem Thema. Am nächsten Tag wollte ich einen Tagestrip nach Mostar unternehmen, um dieser Schneehölle zu entkommen, und fragte Esther spontan ob sie mitkommen möchte. Im Tram erfuhr ich ein bisschen mehr über sie. Sie stammt aus Minnesota und ist eine der working nomads! Ich bin so neidisch! Sie designt freiberuflich Apps, und weil sie dafür kein Büro braucht, reist sie währenddessen herum. Was für ein Traum.
Das Gespräch wurde abrupt von der Ticketkontrolle unterbrochen. Wir zeigten unser Ticket vor, aber irgendetwas stimmte damit nicht, und die Kontrolleure ohne Englischkenntnisse eskortierten uns weg. Stellte sich heraus, dass man beim Fahrer gekaufte Tickets nochmal im Tram abstempeln muss. Und das waren richtig nette Leute. Man ließ uns nicht abstempeln und weiterfahren. Man ließ uns nicht ein neues Ticket kaufen. Man warf uns nicht nur aus dem Tram. Nein, die Kontrolleure zerrten uns auf die verschneite Straße, verlangten Ausweise und 27 Konvertible Mark Strafe pro Person und wählten die Nummer der Polizei, als wir weggehen wollten. Für ein unabgestempeltes Ticket.
Den Bus nach Mostar haben wir dann auch verpasst…
Alleine wäre der Tag für mich gelaufen gewesen. Aber mit Esther war es nach zehn Minuten lautstarken Schimpfen sogar irgendwie... witzig. Wir liefen also zurück in die Innenstadt, quatschten über Politik, Kultur und Reisen und gingen als Erholung von der fleischlastigen Balkanküche und der Minusgrade zu einem gemütlichen Italiener.
Gezwungene Shoppingtour
Sie lief danach zurück ins Hostel, ich hatte vor, die Walking Tour zu machen. Nach einem Blick nach draußen entschied ich allerdings, dass ich eigentlich keinen Todeswunsch habe, und kaufte mir stattdessen neue Schuhe - schweren Herzens, aber es musste sein. Meine Stoffschuhe waren durchtränkt mit Matsch und Wasser, und der etwas altmodische Heizstrahler im Hostel hatte ein fingerlanges Loch in den linken hineingebrannt, welches nun langsam aufriss. Nun laufe ich stolz in roten Sneakern über den Balkan.
Zurück im Hostel trafen wir auf Antoine aus Belgien und Celia aus Spanien, letzteres bekam ich erstmal gar nicht mit, denn sie unterhielt sich flüssig auf Französisch mit Antoine. Die beiden sind furchtbar fröhliche Leute, also überredete ich sie, mit Esther und mir zum Yellow Fortress hochzulaufen und dort einen Schneemann zu bauen (wenn man schonmal kann!). Auch wenn wir den 500 Meter entfernten Fortress zwei mal verfehlten, weil ich so konzentriert darauf war, mit Antoine Französisch zu sprechen. So wunderschön war die Aussicht dort oben, und für mich wohl auch einzigartig, denn ich werde niemals im Winter nach Sarajevo zurückkehren. So hat alles irgendwie seine Vorteile, und spätestens als wir das Schneetreiben von einem Cafe aus beobachteten und uns alle gegenseitig fotografierten, war alle Bitterkeit zum Thema Wetter verschwunden.
Jazz, Blumen, Abschied
Die drei gingen dann noch zu einem klassischen Konzert, aber das ist ja bekanntlich nicht so meins, also traf ich mich später mit ihnen in einer Jazz Bar. Die war schön, ich probierte alle Rakjasorten auf der Karte… und Esther hatte mir eine Rose gekauft! “Just for being you”. Wie lieb! Das ist der Nachteil am Soloreisen - dass man ständig tolle Leute hinter sich lassen muss.
Trotzdem war der Gedanke, weiter nach Süden zu fahren, verlockend. Und ich habe so viel Gutes über Montenegro gehört - was sich auch als wahr herausstellen sollte! Könnt ihr euch im nächsten Teil geben!