Von einer eingestaubten Gitarre und Reflektionsmotivation
Da es in einem Monat schon so weit ist, und ich mir jetzt schon vorstellen kann, wie mir kurz vor der Abreise gestresst all die vergessenen und verschobenen Dinge im Kopf herumschwirren, will ich eine erste Bilanz (auf die dann möglicherweise eine zweite folgen wird – aber nehmt mich nicht beim Wort, gestresst bin ich sehr unzuverlässig) ziehen! …puh das war ein langer Satz…
Sobald es „früher“ in der Schule hieß, reflektiert doch mal bitte dies und das, sauste die Motivation mit der Geschwindigkeit eines Objekts im freien Fall zum Nullpunkt. Warum sollte man auch versuchen, sich irgendwie zu motivieren, für eine Aufgabe, bei der die Lösung (also das, was der Lehrer bzw. die Lehrerin hören wollte) schon von vornerein klar war und meistens mit der eigenen Meinung nicht wirklich zur Deckung gebracht werden konnte. Soweit zu meinen Erfahrungen während der Schulzeit… Man kann wohl annehmen, wenn ich freiwillig eine Reflektion schreibe, dass meine Reflektionsmotivation gestiegen ist. Aber nicht nur das, ich wurde zu einer Befürworterin und großem Fan.
Glücklicherweise kam man hier auch von Anfang an gar nicht drum herum, Dinge zu reflektieren. Reflektion war anfangs vor allem in unseren „Monday Meetings“ gefragt und damit verbunden auch die entstehende Kritik, aus der sich dann im besten Fall Wege zur Verbesserung auftun. Das alles in einem Meeting auszudrücken, anzunehmen und schließlich in die nächste Woche einzufügen war anfangs Neuland für mich, auf dem ich mich jedoch heute sehr gut bewegen kann und fast schon wohlfühle. Reflektion habe ich versucht von Anfang an zu betreiben, mit ein paar Stichworten oder Zitaten in einem Notizbuch (um nicht Tagebuch zu sagen) oder mit den Überlegungen für einen neuen Blogeintrag und deren Niederschrift immer mal wieder aufs Neue!
Das wichtigste für mich an einer Reflektion sind die dabei aufkommenden neuen Ideen und Ziele. Ein paar Ziele habe ich circa einen Monat nach meiner Ankunft notiert:
- Gitarre lernen
Wie bin ich da überhaupt draufgekommen? Keine Ahnung mehr, auf jeden Fall habe ich mir im August irgendwann eine Gitarre bei Rapatac ausgeliehen, Akkorde im Internet heruntergeladen und ein bisschen angefangen herumzuklimpern. Mein Ziel war es, die Hauptakkorde, die eigentlich in jedem Lied vorkommen, zu lernen (ich habe mir schon ausgemalt wie ich mit Freunden am Lagerfeuer sitze und wir gemeinsam Lieder singen). Nun ja weiter als C-Dur, G-Dur und A-Dur bin ich nicht gekommen…
- Gesunder Lifestyle
…natürlich immer ein erstrebenswertes Ziel, aber gerade hier in Schweden wurde es zu einer neuen „Mission“ für mich, was bestimmt auch an den sportlich aktiven Schweden und den klasse Angeboten für Veganer in Supermärkten liegt. Und tatsächlich habe ich es mit Ausnahme der ein oder anderen Fika, die ich dann doch noch nicht abschlagen kann, geschafft, mich während der letzten Zeit vegan zu ernähren. Und durch die zahlreichen Sportangebote und Wanderwege fällt es auch nicht weiter schwer, einigermaßen sportlich zu bleiben.
- Freunde und Inspiration finden
Ja, mit den Freunden ist das so eine Sache, denn neue Leute kennenzulernen hat sich mit sieben Arbeitsstunden am Tag in einer Einrichtung, die eigentlich meistens von denselben Leuten betreten wird, etwas schwierig herausgestellt. Meine WG-Mitbewohnerinnen, die ich hier natürlich auch neu kennengelernt habe, sind mir dagegen sehr ans Herz gewachsen und ich bin der festen Überzeugung, dass unsere Freundschaft auch nach Schweden stark bleibt. Darüber hinaus hatte ich sehr Glück mit meinen Arbeitskollegen während des Sommers, die auch Jugendliche in unserem Alter waren und mit denen wir auch viel erlebt haben.
„Inspiration zu finden“ fällt mir ebenfalls schwer, zu beschreiben. Es ist nicht so, dass ich Inspiration direkt gesucht hätte, sondern eher gute Gespräche und neue Denkanstöße und „Türöffner“, um sich neue Interessensgebiete zu erschließen. Ein neues oder besser erschlossenes Interessensgebiet wurde für mich auf jeden Fall Veganismus und das weite Feld Education. Der Veganismus kam mir vor allem durch einige Gespräche mit Rahel näher, die zwar auch nicht komplett vegan ist, aber allein der Austausch über Fakten, Rezepte und die Empfehlung von verschiedenen Dokus hat mir diese neue Welt sehr viel näher gebracht. Als sie dann leider Schweden verlassen hat, habe ich dieses neue Wissen vor allem mit Inessa ausgetauscht und durch verschiedene Dokus ein tieferes Verständnis für das Warum und Wie bekommen. Inzwischen haben wir in unserer WG zu dritt eine vegane Woche gemeistert, kochen wann immer es geht gemeinsam ein veganes Mahl und haben einen veganen Kochkurs in Uppsala angefangen. Inspiration gibt es hier en mass! Den Austausch über Rezepte und Fakten oder aber über ganz andere Themen habe ich richtig schätzen gelernt. Auch in unserer WG kommt es nicht selten vor, dass neue philosophische oder gesellschaftliche Fragestellungen aufgeworfen werden und darüber angeregt diskutiert wird.
Das mit der Education war dagegen ein etwas langsamerer Prozess. Natürlich war die Auseinandersetzung mit diesem Feld immer eine interessante Randerscheinung während der Schulzeit – aber eben auch nicht mehr. Dadurch, dass ich nun gerade in einem Teil dieses Felds arbeite, wurde Education von einer Randerscheinung zu einem ständigen Wegbegleiter. Vor allem wenn es in Meetings oder Trainings um die Ideologie und die Mission Rapatacs ging, war das für mich wie ein neues Puzzleteil, das mir zum einen mehr Aufschluss über Rapatac selbst gab und zum anderen mein Verständnis für Education modernisierte. Und viele dieser Puzzleteile fügten sich dann schließlich auch in meine Arbeit und in den Umgang mit den Kindern ein.
- Beziehungen zu den Kindern vertiefen
Dass die Beziehung zu den Kindern das Fundament und der Weg zum Erfolg meiner Arbeit ist, wurde mir schon an meinem ersten Arbeitstag gesagt. Anfangs fiel es mir sehr schwer, was man natürlich auch auf die Sprachbarriere schieben kann. Denn ich konnte Englisch aber kein Schwedisch und die Kinder haben Schwedisch zumeist als Zweitsprache zu ihrer Muttersprache gelernt und können nur vereinzelt brockenhaft Englisch. Dazu kommt aber noch, dass man oft selbst die Initiative ergreifen muss. Die Kinder sind eher scheu gegenüber neuen Menschen, vor allem wenn sie dazu noch eine andere Sprache sprechen. Ich habe gelernt, dass diese Beziehungen Zeit brauchen, gerade um auf eine gewisse Vertrauensbasis zu gelangen, um davon ausgehend eine ausgeglichene Beziehung zwischen Freund und Erzieher zu dem Kind aufzubauen. Und diese beginnt natürlich mit dem Namen – dumm nur, dass ich immer Ewigkeiten für einen einzigen Namen brauche und in Rapatac täglich nicht nur zehn Kinder sind, sondern dreißig bis vierzig! Aber auch diese Hürde habe ich inzwischen genommen und bewege mich nun sicher in dieser Masse von Namen und werde sogar täglich mit Umarmungen von Kindern begrüßt.
- Sich hier zuhause fühlen
Wahrscheinlich das Ziel, das sich am schwersten beeinflussen lässt und man sich einfach darauf zu treiben lassen muss, um es zu erreichen. Vor allem, wie lässt sich dieses Gefühl messen? Lässt sich ein solches Gefühl überhaupt beschreiben? Es fühlt sich auf jeden Fall ähnlich wie ein Zuhause an, unsere WG zu dritt, aber das allein reicht ja noch nicht, um sich „zuhause zu fühlen“. Ich denke, dazu müssen auf jeden Fall Freundschaften kommen, vertraute Menschen und neben der Arbeit so etwas wie Freizeitgestaltung und Pläne für ein gutes Wochenende. Gävle ist für mich inzwischen auf jeden Fall eine Art zuhause geworden, aber es fühlt sich natürlich anders an als mein Zuhause in Deutschland mit meiner Familie und meinen langjährigen deutschen Freunden. Heimat ist ein großes Wort, aber wirklich interessant über seine Bedeutung nachzudenken, deswegen komme ich vielleicht in einem anderen Eintrag nochmals darauf zurück (sonst würde dieser Eintrag definitiv zu lang werden).
Dieser Eintrag sollte ursprünglich ziemlich kurz und grob werden… aber wie es scheint, gab es doch viel mehr zusagen, als ich gedacht hatte – zum Glück habe ich diesen Eintrag also nicht weiter aufgeschoben…