Por la Calle
Unterwegs in Lateinamerika – Überfüllte Busse, endlose Landschaften, dunkle Urwälder und eine unbezwingbare Melodie in meinem Ohr: Das Lied eines zerrissenen Kontinents und seiner Menschen.
~~Der staubige Weg schlängelt sich endlos durch eine Landschaft aus Kakteen, Felsenformationen und verrosteten Cola-Dosen, bis er irgendwo neben der Sonne den Horizont küsst. Der untersetzte Busfahrer scheucht mich wieder in den klimatisierten Reisebus, aber während ich einsteige, erhasche ich einen letzten Blick auf Mexiko, einem Land, von dem ich mir nie erträumt hätte, es zu bereisen..
Zentralamerika – Drogenhandel, Waffenschmuggel und Bandenkriminalität machen diese Länder zu einer der gefährlichsten Zonen der Welt, denn schicksalshafterweise liegen sie exakt zwischen den südlichen Ländern, die Drogen produzieren und dem Land, in welchem die Nachfrage für das weiße Gold groß ist: Den USA. Die Narcotrafficantes schaffen sich ihre blutigen Handelsrouten mit Hilfe korrupten Politikern und Militärs.
Doch trotz aller Warnungen machte ich mich, mehr naiv als mutig, mit meinem Rucksack und dem Versprechen meiner Freundin, in Mexiko-Stadt auf mich zu warten, auf den Weg. Denn das Leben spielt sich auf der Straße ab: Straßenverkäufer preisen lautstark ihre Waren an, die in der erbarmungslosen Mittagssonne schon an Farbe verlieren, Kinder tummeln sich mit Straßenhunden und alte Herren lehnen sich in Plastikstühlen zurück und lassen den Tag an sich vorbeiziehen.
Für mich, das deutsche Mädchen aus der Kleinstadt, wo jeder hinter ordentlich gestutzten und blickdichten Buchsbaumhecken lebt, war das der erste Kulturshock: Nicht nur in das brodelnde Leben geworfen zu werfen, sondern auch als Chela, als Blanca und Gringa im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Und nicht nur meine helle Haut entlarvte mich gleich als Fremde: Mein gebrochenes Spanisch, meine Verlegenheit, mit der ich den Pfiffen der Typen am Straßenrand begegnete, meine Regenjacke und das Desinfektionsspray...
Das ist aber auch eine der wertvollsten Erfahrungen, die man auf Reisen machen wird: In einem völlig anderen Kontext gestellt beginnt man, seine eigene Kultur, seine Überzeugungen und Gewohnheiten in Frage zu stellen.
Aber der Weg nach Mexiko ist noch lang, drei Tage lang tuckere ich durch Honduras, Guatemala, El Salvador: Hinter dem Fensterglas betrachte ich diese Region, vor der so eindringlich gewarnt wird und kann doch nicht anderes sehen als Menschen in ihrem Alltag. Wie begegnet man also der Fremde? Mit einem Lächeln. Wenn man sich auf dieses Abenteuer einlässt, raus auf die Straße geht, sich Ziele ausmalt und sich auf den Weg macht, erreicht man viel mehr als nur einen Ort. Man wächst mit jedem Schritt, und die Orientierung zu verlieren bedeutet nichts anderes als eine Gelegenheit, sich zu finden.
Und diesen Prozess erlebt auch der ganze Kontinent: Die Geschichte Lateinamerika ist gezeichnet von der Kolonialisierung, von aufgezwungenen Sprachen und Religionen, von Stellvertreterkriegen und Machtkämpfen, von Unabhängigkeitsbewegungen, Militärputschen, Korruption und nun dem mühevollen Weg zur Demokratie. Aber die Menschen, denen ich begegnen durfte, erzählen mir ihre eigene Version der Geschichte. Viele der älteren Generation haben noch Diktaturen überstanden, haben Zeiten der Revolution erlebt und verlieren nun ihre Autonomie an korrupte Politiker und die zermürbende Maschinerie der Weltwirtschaft. Und die Jugend? Sie versucht ihrer armen Heimat zu fliehen, mit Illusionen von Amerika und Europa. Lateinamerika ist ein Kontinent mit offenen Adern, schrieb der kürzlich verstorbene Autor Eduardo Galeano, und durch seine Geschichte der Fremdherrschaft verdammt.
Doch die Hoffnung lebt: Denn die Menschen identifizieren sich aus vollem Herzen mit ihrer Kultur, ihrer Heimat und ihrer Tierra, und sind jederzeit bereit, diese zu verteidigen. Als es in Nicaragua, meiner kurzweiligen Heimat, zu großen Landverkäufen an eine chinesische Firma kam, die dort einen interozeanischen Kanal konstruieren wollen, kam es zu richtigen Aufständen: Bauern warteten den Geschäftsmänner, die die erkaufte Erde besichtigen wollten, bewaffnet mit Macheten und Mitgabeln auf, und scheuchten sie direkt wieder in ihre Geländewagen.
Dieser Stolz, dieses Bewusstsein seiner Herkunft und das Selbstverständnis als Bürger könnte eigentlich als Motor eines gesellschaftlichen Umsturzes dienen, stände da nicht ein wenig die typische Gelassenheit der Latinos im Weg: Tranquilo ist mehr als nur ein Adjektiv, es ist eine Lebenshaltung.
Aber stillstehen kann ich nicht, denn die Reise geht weiter: Mit klapprigen Bussen, auf den Rücken von Pferden, Maultieren oder Bullen, lebensgefährlich auf den Dächern von Transportern, per Anhalter in alten VW-Käfern bis hin zu richtigen Trucks oder einfach zu Fuß – Und je weiter ich mich entferne, desto näher komme dieser anderen Welt, Lateinamerika, in der ich mich auch ein wenig verloren habe.
Link-, Film- und Musiktipps
◾Eduardo Galeano, Die offenen Adern Lateinamerikas (1971) : "Ein umfassendes Werk über die traurige Kolonialgeschichte Lateinamerikas" (Einen historischen Überblickt bietet folgende Seite:
http://www.lateinamerika-studien.at/content/geschichtepolitik/geschichte/pdf/lasamericas.pdf)
◾Vielseitiges Angebot der Bundeszentrale für Politische Bildung:
http://www.bpb.de/internationales/amerika/lateinamerika/
Filmtipp
◾The Motorcycle Diaries: Die abenteuerliche Reise Ché Guevaras quer durch den südamerikanischen Kontinent. Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=RWBsQArUkQY