Polako, Polako!
Meine ersten Wochen in Vranje und wie sie ganz langsam vergingen. Große Pläne, ein verstrahlter Berg und der erste Rakija. Ein Ausschnitt.
Die Bilanz bisher: beinahe durchweg positiv. Menschen gut, Getränke gut, Stimmung: super. Gesprächslautstärke: sprengt jegliche Grenzen. Pläne: sind geschmiedet und müssen nur noch in Angriff genommen werden. Mensch, da verbringt man ein ganzes Jahr in einem anderen Land. Da muss man doch was draus machen! Da lässt sich doch was mit anfangen. Visionsgeschwängert finde ich mich im Pub wieder, wie ich die ersten Serbischbrocken von mir gebe und in begeisterte und lachende Gesichter schaue. Ich bin beliebt! Das ist doch viel wichtiger als der Auftrag, hier was zu lernen! Mit 28 bin ich eh zu alt für EVS. Ach, und wenn ich erstmal serbisch kann, wird sowieso alles einfacher! „WHAT? Nicoletta (wahlweise auch Negica oder Nicolija), you're 28?? You look so much younger! Like 19.“ Ja danke, schon gehört... Ja, ihr wiederholt euch... Ja, ich weiß, ich seh jung aus. Ja, das sagt mir jeder.... STOPP JETZT MAL! Was muss man denn hier eigentlich machen, um nicht wie ein Teenie auszusehen? Make-Up und diese kunterbunte Kleidung und ein paar 40 cm- High Heels? Das ist wohl Vranje-Standard.
Das erste kleine Event im Centar E8 wurde gefeiert- ein Mini-Dokumentarfilmfest mit drei sehr interessanten Filmchen, den Kollegen aus Belgrad und meinem ersten Rakjia. Dabei lernte ich den altklugen, aber warmherzigen Koun aus Holland kennen, der sehr viel über den Balkan zu berichten wusste. Uiuiui, der eine!!! Stomaklija versprach nicht zuviel. (stomak heißt natürlich Magen) Der pünktliche Gang zur Arbeit am nächsten Tag war leider aufgrund von Unpässlichkeiten nicht möglich. Das erklärte Ziel meines EVS ist laut meiner Chefin nun nicht mehr, hier was zu lernen, sondern meine Drinking skills zu „improven“!
Gemeinsam mit Koun, Josipe und Dragan, dem Ortskundigen fuhren wir am nachmittag im gemütlichen Familien-YUGO (übrigens noch mit dem Umriss von Yugoslawien am Heck, einer der Letzten seiner Art) die Sehenswürdigkeiten der Umgebung ab. Markovo Kale, eine alte Burgruine mit seiner schönen Umgebung lädt wohl öfters auch junge Pärchen zum Schäferstündchen ein, denen das im elterlichen Haushalt unter den kritischen Augen der Erziehungsberechtigten sicher nicht gestattet wäre. Achso und dran denken: „You shouldn't go to this mountain! Because of the NATO bombing there is a high radiation.“ Oh, ups! Dabei war das mein nächstes Wanderziel. Na, wenigstens keine Minen hier, was? Am Hotel Przar mit seiner wunderbaren Aussicht über Gesamt-Vranje genoss ich den ungenießbarsten türkischen Kaffee meines Lebens. Fühlt sich ein bisschen an, wie 1988 auf der Bastei sitzen und aus riesengroßen staatseigenen Kaffeetassen Bliemchenkaffee schlürfen.
Zurück in Vranje ist man sich nicht ganz einig, ob nun noch Film kucken, oder nicht. Nach bereits 20 min. geschauten Films wird abgebrochen und debattiert. Für jemanden, der der Sprache nicht mächtig ist, hört es sich allerdings an, wie hitzige Diskussionen über Grundsatzfragen der Freundschaft. Wenn dann plötzlich zwei der Anwesenden fluchtartig das Büro verlassen, ist das Bild perfekt. „No, they just have to go because they have a wedding tomorrow.“ Stattdessen gibt’s dann ein paar yugoslawische Musikleckerbissen, wie diesen hier: die serbische Arbeiterklasse singt und yugo-nostalgische Gespräche über die gute alte Zeit, in der jeder noch Arbeit hatte. Warte! Das kommt mir bekannt vor!
Die Arbeit hat nun auch endlich richtig angefangen. Bisher geht es um das Schließen von Partnerschaften zu anderen Organisationen, um an etlichen Youth Exchanges und Training Courses in anderen Ländern teilzunehmen. Also eigentlich heißt es eher suchen, suchen, suchen und dann COPY & PASTE. Aber man bekommt doch einen recht guten Einblick in die Erasmus +- Geschichte und ich muss sagen, dass ich ziemlich begeistert bin von den Projekten, die da so von der EU gefördert werden. Da bekommen vor allem engagierte junge Menschen Zugang zu Austauschen in fremden Ländern, die sich sonst nie leisten könnten. Toll! Trotzdem schwirrt mir immer wieder der kleine polnische Fischer im Kopf herum, der seine Fischernetze aufgrund von verschärften EU-Regelungen von Hand umknüpfen muss und dafür keinerlei Subventionen erhält. Das will mir dann doch nicht so ganz in den Kopf rein.
Die Planung für den Radiosender läuft auf Hochtouren. Die Ideen sind toll. Nur will es einfach noch nicht so richtig losgehen. Das ist schade, aber auch mit vielen anderen Dingen so. Polako, Polako ist die Devise. Immer mit der Ruhe. Mist, ich gewöhne mich viel zu schnell an diesen Arbeitsrhythmus. „Nicolija you are working too much!“ Ich wüsste nicht, wo ich das schon mal gehört hätte. Da so viel Zeit bleibt für andere Dinge, habe ich schon mal mit der Planung meines eigenen Projektes angefangen. Ein Workshop zu Stadtentwicklung und wie junge Leute sich einbringen können. Ein konkretes Objekt ist auch schnell gefunden. Das lokale Schwimmbad, was leider momentan vor sich hingammelt, früher aber mal die coolsten Partys in Town beherbergte. Ich sehe schon die vor Enthusiasmus glühenden Gesichter der Workshopteilnehmer, wie sie die verrücktesten Ideen aufs Papier bringen. Oder nicht? Oder wie?? Polako, Polako!
Vieles ist bereits entdeckt, viele interessante Menschen wurden kennengelernt und dennoch glaube ich, dass sich hier noch viele Türen öffnen, sei es nun der örtliche Wanderklub mit einem Durchschnittsalter von vermutlich 60 Jahren, oder der Chor, der nach deutschen Mitstreitern sucht, die „99 Luftballons“ richtig aussprechen können. Die Leute mag ich jedenfalls jetzt schon. Es ist eben auch nur ne kleine Neustadt, nur ohne Hipstertum und Live-Club. Ganz normal.
was mir fehlen wird:
KONZERTE!, Brotaufstriche, Sushi und anderes asiatisches Fastfoodgedöhns, Jerseyröcke für 6€ und Whiskey Sour
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