Luft! Luft! Mir erstickt das Herz!
Ein Essay über Krankenakten und frischen Wind.
Bis ins 18. Jahrhundert war es in Frankreich verboten den "Kuhreihen", ein Hirtenlied, zu singen oder gar nur zu pfeifen, da Schweizer Söldner beim Vernehmen dieser Klänge anscheinend massenhaft erkrankt oder desertiert seien.
Der Begriff "Heimweh" war zunächst ein medizinischer und tauchte erstmals im 17. Jahrhundert in der Schweiz auf.
Das, woran die Soldaten in Frankreich litten und woran sie teils verendeten, wurde als "Nostalgia" erstmals 1688 vom Arzt Johannes Hofer in Basel als Krankheit beschrieben und ist noch heute unter der "Schweizer Krankheit" bekannt.
Gestern habe ich Versicherungspapiere ausgefüllt:
"Beschreibung der Behandlung: neue Brille [...] Grund der Behandlung: ..." Ich setzte meinen Stift an und überlegte. "ich sehe nichts." vielleicht; oder "Europa zahlt dafür". Ich entschied mich für "mit der Zeit gehen". Denn als junge, moderne Frau ist es für mich unabdingbar mir ein neues Brillengestell zuzulegen. Ich trug meine Kontonummer in die letzte Spalte ein und unterzeichnte, dass diese Angaben korrekt seien.
Beschreibung der Behandlung: "Schweizer Krankheit", Grund der Behandlung: "Luftveränderung", so wie es Johannes Hofer im 17. Jahrhundert deutete.
Sicherlich, die klimatischen Bedingungen hier sind andere. "Hallo Mama, ich habe einen Sonnenbrand auf der Nase. Das ist der heißeste Tag im Jahr, 14°C! Nahezu tropisch!", schrieb ich letzte Woche. Als Antwort erhielt ich: "Schmier Quark drauf. Kuss, Mama" und dazu einen Link zur Wettervorhersage in Stuttgart. 38°C.
Hofers "Luftveränderung" muss sicherlich auf einer anderen Ebene betrachtet werden. Einer atmosphärischen womöglich.
Denn meine Versicherung wird mir meine Hofer'ischen Papiere wahrscheinlich mit dem Stempel "aus der Luft gegriffen" wieder dorthin zurücksenden, wo sie hergekommen sind. Nach Island, bewölkt, 14°C.
Die Problematik "Luftveränderung" ist eine internationale. Das, was im Deutschen, "in der Luft liegt", funktioniert Wort für Wort auch im Isländischen: "Það liggur eitthvað í loftinu", wird im Englischen aber ein Seinszustand "There is something in the air", während im Polnischen Dinge in der Luft "hängen", so wie der Nebel über einer Stadt ("coś wisi w powietrzu", bzw. "nad miastem wisi mgła").
Der emotionale Aspekt wird in allen genannten Beispielen mit einer meteorologische Ebene verknüpft, sodass die Stimmung einer Voraussicht allumfassend beschrieben werden kann.
Wenn der Volksmund dann sagt "du kannst nicht nur von Luft und Liebe leben", unterschreibt er vielleicht auch ein Versicherungspapier und gibt Hofer recht, dem zufolge Menschen sogar an der Luft, die sie atmen, sterben, einsam und melancholisch.
Betrachten wir den Befall von Heimweh also als Änderung der Luftzusammensetzung, Veränderung der Atmosphäre, haben wir es sowohl mit einem chemischen, als auch mit einem emotionalen Problem zu tun.
In meinen grauen, winterlichen Tagen hier, in denen die Luft Minusgrade betrug, habe ich mir oft verboten mein Hirtenlied zu singen. Ich sagte mir: Auch Reykjavik ist eine Stadt, in der ich als Stadtkind leben kann, auch hier gibt es Menschen, mit denen man als soziales Wesen Konversation führen kann, auch hier gibt es Dinge zu tun und zu essen, Kunst zum Ansehen und Bücher zum Lesen, Musik zum Anhören und Konzerte zum Hingehen. Meine Bedürfnisse sollten gestillt sein, warum diese Trägheit?
Viele Menschen verlieben sich in Island und sagen dann, dass die Natur sie beflügelt, die Menschen so offen wären und das Leben hier ganz wundervoll sei. Ich höre mir diese Geschichten gerne an, aber nur bis zu dem Punkt, an dem ich weiß, woher die Menschen kommen. Denn Islands Landschaft mag schön sein, doch "Schönheit" ist kein feststehender Begriff, sondern eine philosophische Fragestellung. Der Wald vor meiner Haustür war schön, ebenso der Urlaub in Spanien und sogar den Korntaler Acker kann man im Sommer schön nennen.
Seitdem "Mut zur Hässlichkeit" sich in Ästhetik und Kunst etabliert hat, herrscht ohnehin Anarchie in der Begrifflichkeit des Schönen.
Orte mögen im Sinne der allgemein gültigen Ästhetik sicherlich von der Mehrheit der Menschen als "schön" empfunden werden, doch was sie für uns besonders macht, ist nicht die Wahrnehmung selbst. "Schöne" Orte findet man überall.
Ein Lied, ein Ort, eine Zeit gewinnt dann erst an Bedeutung und geht über die reine Wahrnehmungsebene hinaus, wenn wir die Luft, die wir um sie herum atmen, miteinbeziehen.
Die Zusammensetzung, die die Chemie zwischen Menschen stimmen lässt; die Luft, die meine Lunge rein macht und meinen Kopf mit Sauer- und Süßstoff füllt.
Hier habe ich oft über den Begriff der "Heimat" nachgedacht, nach der man sich im Ausland anscheinend manchmal sehnt.
Einerseits, weil ich zwei Sprachen verstehe, doch nur eine meine Muttersprache nenne und hier aber in der größten Minderheit des Landes eine Mentalität sehe, die ich besser zu verstehen glaube als Menschen, die keinen Bezug zu diesem Land haben.
Anderseits, weil ich als Deutsche am Tag der deutschen Einheit niemals einen Kuchen mit Nationalfarben gegessen habe, während ich meine Kindergartenkinder hier am 17. Juni Fahnen- und zuckerwatteschwenkend durch den Regen der Hauptstraße ziehen sah.
Eines Tages, an dem ich mich als einen Patientin Hofers verstand, endete mein Versuch durch die Stadt zu schlendern in Tränen und Erinnerungen an all die Orte, die zu Hause so viel besser waren.
Die Kneipe, in der man immer saß, die Brezel, die man immer aß, den Wald, in dem man spazieren ging.
Jetzt, da sich im Sommer die Zusammensetzung des Windes verändert hat, weiß ich, dass nur etwas in der Luft lag. nostalgische Phantasien, die Sehnsucht nach Etwas, was ich zu vermissen glaube, dessen eigentlicher Kern aber nur das Abhanden sein einer bestimmten Emotion zugrunde liegt.
Wenn ich in anderthalb Monaten wieder "zu Hause" bin, werde ich sicherlich auch flache Pfannkuchenbrote, kostenloses Wasser und furchtbare Mayonaisensandwiche von der Tankstelle vermissen, weil ich das Fehlen einer Emotion in Momenten auf Dinge, die ich in Island besitze und in Deutschland nicht, übertragen werde und weil vor allem der deutschsprachige Raum an "Nostalgia" leidet.
Zum Glück kann man hier vorsorgen. Im Touristenshop gibt es Gläser mit Isländischer Luft für ca. sechs Euro.
Beschreibung der Behandlung: "homöopathisches Mittel gegen Luftveränderung" Grund der Behandlung: "Vorsorge gegen Schweizer Krankheit".
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