Grenzen werden überfahren
In einem Zug an der Grenze zwischen Ungarn und Kroatien schweifen meine Gedanken von wunderbar geselligen Stunden zu tiefst kritischen Gesprächen in der Gemeinschaft junger, internationaler Freunde. Das Aufeinandertreffen der verschiedenen Persönlichkeiten und Kulturen, Regierungen und Systemen europäischer Länder birgt Konflikte, doch wichtiger sind die interkulturellen Freundschaften und Gemeinsamkeiten.
Der Zug hält an einem kleinen, unscheinbaren Bahnhof. Auf dem Bahnsteig stehen ein paar Uniformierte. Sie steigen am Ende des Zuges ein. Eine ganze Weile geschieht nichts in meinem Abteil. Die drei Jungs aus Slowenien führen ihre Unterhaltung fort. Der Spanier an der Türseite bittet die Spanierin an der Fensterseite, ihm sein Handy vom Ladegerät zurückzugeben. Dann beginnt er ein neues Schachspiel gegen das Gerät und sie schläft wieder ein. Mit angewinkelten Beinen lehne ich mich gegen die Zugwand und hänge mit dem Blick aus dem Fenster meinen Gedanken irgendwo zwischen dem, wo ich herkomme und dem, wo ich hingehe, nach.
Der erste Beamte passiert unsere Kabine, wirft einen kurzen Blick durch die Glastüre und geht weiter. Die letzten Tage waren voll gepackt mit Neuem und Interessantem, Merkwürdigem und Fremdem, Bezauberndem und Verstörendem. Auch die nächste Beamtin zieht tatenlos an unserem Abteil vorbei zum nächsten. Ihr Kollege öffnet unsere Türe. Auch wenn wohl keiner im Abteil ungarisch versteht, hat jeder verstanden, dass wir an der Grenze zu Kroatien sind und ein persönliches Dokument parat.
Drei slowenische Pässe, zwei spanische, ein deutscher. Der Polizeibeamte sieht sich einen nach dem anderen an und gibt jeden wortlos zurück. Er zieht die Türe zu und selbst weiter.
Nun habe ich also Ungarn verlassen. Budapest liegt bereits ein paar Stunden Zugfahrt hinter mir. Drei Tage liegt Wien zurück. Und davor Ljubljana. Und davor Florenz so wie andere Orte in der Toskana. Nun warte ich an der Grenze, einer Schengengrenze, bis ich Kroatien betrete. Befahre, um genau zu sein. Wörtlich genommen habe ich noch nie ein anderes Land betreten. Noch keine Grenze übertreten, übergangen. Nur übersprungen; zumeist aber überfahren.
Grenzen zu übertreten klingt schon ein bisschen frech, nach etwas Mutigem und Unabhängigem. Grenzen zu überfahren klingt dagegen brutal. Dabei passiert es aber doch jeden Tag und ständig. So wie ich es in den letzten elf Tagen fünfmal getan habe. Aber nie habe ich jemandem beim Überfahren etwas zu Leide getan. Meistens hat es nicht einmal irgendwer wahrgenommen. Meistens nehme nicht einmal ich war, wie ich eine Grenze überfahre.
Nur jetzt, nur hier ist es mir bewusst, weil ich warten musste, bis mir der ungarische Staat – und damit auch die Europäische Union – genehmigt hat, das Land – und damit auch die EU – zu verlassen und weil ich nun warte, bis mir der kroatische Staat genehmigt das Land zu betreten. Befahren.
Der kroatische Beamte erreicht unser Abteil, öffnet die Tür und bittet um die Pässe. Mit einem Stempel, der bezeugt, dass ich in Kroatien – legal – eingereist bin, verlasse ich den Status zwischen zwei Staaten – verlasse ich die theoretische Grenze. Befinde mich nun in einem neuen Land.
Der Stempel ist nicht der erste in meinem Reisepass. Der erste war kanadisch. Seitdem tummeln sich auf den Seiten verstreut mehr und mehr kroatische.
Auf den Reisepass meiner spanischen Sitznachbarin blinzelnd frage ich mich einmal mehr, warum Angehörige anderer Staaten Tiere, zum Teil sogar einen anderen Vogel, Schmetterling oder Elch auf jeder Seite haben, während wir Deutschen langweilige, fast leere Seiten zu füllen versuchen. Aber das sind Details.
Ich bin nun also wieder in Kroatien. Aber wie in den meisten Fällen ist auch nicht das Reiseziel an sich spannend sondern mehr von praktischer Natur. Zagreb bietet mir bessere Transportmöglichkeiten und gute Freizeitangebote. Also händige ich alle paar Wochen meinen Personalausweis oder – wenn ich meinen Stempeln einen neuen Gesellen wünsche – Reisepass aus und finde ein baldiges Ende diese Prozederes eigentlich ganz angenehm – es scheint ja doch niemanden so richtig zu interessieren, dass ich die Grenze überquere.
Doch auf einem Streifzug durch Zagrebs Straßen wurde mir kürzlich bewusst, dass es auch starke Zweifel, Ängste und Bedenken gegenüber dem Eintritt Kroatiens in die EU gibt. Ich erinnere mich an den Anblick eines Halteverbotschildes, auf dessen blauer Kreisfläche gelbe Sterne am Rand angebracht wurden, so dass dort nun ein rot durchgestrichenes EU-Emblem auf der Straße steht.
Ich bin eine europäische Freiwillige. Die EU zahlt mit meinen Unterhalt, ich wohne in einer kleinen Wohnung, habe genug Geld, um mich zu ernähren und selbst für Kaffee und ein paar Reisen reicht das Geld. An erster Stelle steht aber, dass ich in einem Jugendzentrum ehrenamtlich arbeite. Natürlich bedeutet dies Verpflichtungen aufzunehmen, Termine und Aufgaben. Damit gibt es mir aber auch die große Chance, in einem sicheren Umfeld verschiedene Arbeiten sowie neue, kreative und internationale Projekte auszuprobieren. Das Programm der EU ermutigt mich, mit Menschen anderer Länder zusammenzukommen, Erfahrungen auszutauschen und neue zu gewinnen, gemeinsam etwas zu erleben und kreieren.
Blicke ich auf die vergangenen Monate meines EFDs zurück (mehr als die Hälfte ist bereits vergangen), macht es mich zufrieden, stolz und glücklich: in meiner Arbeit mit Kindern und Jugendlichen konnte ich mir bereits Kompetenzen aneignen, die mir persönlich sowie in meinem zukünftigen beruflichen Weg helfen werden.
Glücklich machen mich all die Begegnungen: natürlich mit Sloweninnen und Slowenen, aber auch meine Mitfreiwillige, Mitbewohnerin und inzwischen enge Freundin sowie weitere Bekanntschaften aus Spanien, außerdem Freiwillige aus Mazedonien, Griechenland, Portugal, Rumänien und vielen mehr. Mit all diesen Menschen habe ich erlebt, wie einfach es ist, Gemeinsamkeiten mit Personen aus ganz unterschiedlichen Umgebungen zu finden. Unterschiede natürlich auch, deshalb waren gerade diese auch oft ganz präsent: gegenseitig konnten wir uns erstaunen, darüber, dass die einen keine Küsse geben und die anderen ihre Schuhe daheim nicht am Eingang ausziehen. Jede neue Geschichte hat mich neugierig gemacht die Herkunftsländer mitsamt ihren Erzählerinnen und Erzählern zu besuchen.
Doch mit all diesen Menschen sind wir an irgendeinem Punkt der Unterhaltung auf die politische, wirtschaftliche, krisengeschüttelte Situation der verschiedenen Heimatländer gekommen. Und plötzlich hatte die europäische Union ein zweites Geischt neben dem so vertrauten Gesicht des Trägers des Freiwilligendienstes.
Ich hörte und höre immer neue enttäuschte Geschichten sowie aufgebrachte Berichte aus Slowenien, Spanien, Griechenland und weiteren Ländern (diese bereits aufgrund meiner persönlichen Kontakte an erster Stelle). Dazu lese ich in Zeitung und Zeitschriften von Wirtschaft und Politik, von Spanien, Griechenland und inzwischen selbst dem kleinen Slowenien, von Deutschland, von der EU, von den Banken und den Sparmaßnahmen, von den Betroffenen der Krise. Und auch ich sehe dieses Gesicht, und auch ich bin enttäuscht und verärgert von diesem Gesicht. Und ich treffe, sehe höre wieder und wieder Menschen, die enttäuscht und verärgert sind, von der EU, von Deutschland.
Ich verstehe nun das EU-Verbotsschild in den Straßen Zagrebs. Und trotzdem erlebe ich meinen europäischen Freiwilligendienst so positiv wie nie von der ersten Minute an: ich nehme all die wertvollen Möglichkeiten und Begegnungen dankbar an, genieße es ein aktiver Bürger inmitten der EU zu sein.
Denn ein wichtiger Aspekt, der mir immer wieder Kraft gibt ist: selbst bei den kritischsten und tiefsten Krisengesprächen über all die Missstände und Konflikte in und zwischen den europäischen Ländern geht uns nie die persönliche Verbundenheit verloren. Ich habe nie jemanden getroffen, der mich für Handlungen meiner Regierung verantwortlich gemacht hat. Auch wenn ich hier und da Grund zu Unmut über und Distanzion zu der deutschen Regierung erkenne, habe ich mich nie für meine Herkunft geschämt. Trotz dieses wirtschaftspolitisichen Krisengesichts erlebe ich die positive Vielfalt und Gemeinschaft der EU.
Ich weiß nicht viel über die Situation Kroatiens, ich weiß nicht einmal genug über die Situation Sloweniens, Griechenlands, Spaniens, Deutschlands, der EU. All die Zusammenhänge und Hintergründe scheinen mir so komplex, dass der Versuch sie zu verstehen mir das Gefühl gibt ahnungslos und vielleicht sogar bedeutungslos zu sein. Doch was ich erlebe, auf meinen Grenzwanderungen zwischen verschiedenen Ländern, Kulturen, Geschichten und Situationen, lehrt mich besonders Eines: dass – primär – wirtschaftliche und politische Probleme innereuropäischer Beziehungen strapazieren und bedrücken, doch dass der lebendige Austausch der Kulturen sowie das Gefühl der Gemeinschaft so viel wichtiger sind.
Ich sitze noch am selben Fleck im Zug irgendwo an der ungarisch-kroatischen Grenze; gedanklich bin ich aber bei dem, was vor mir liegt, angekommen: mit der Hoffnung, dass eine europäische Union nicht nur wirtschaftliche sondern auch vielfältig kulturelle Gemeinschaft bedeutet bei dem Moment, in dem mich meine slowenischen und spanischen Freunde vom Bahnhof abholen und wir uns gemeinsam auf weitere internationale Abende und Veranstaltungen vorbereiten.
Die Beamten haben den Zug verlassen, der Zug fährt an.