Echt
70% sind nicht genug.
Wenn ich ganz ehrlich bin, war ich bis vor einem Jahr nie wirklich ein ehrlicher Mensch. Ich hatte mir angewohnt, meine Gefühle konstant abzuschirmen und eine Mauer aus Gleichgültigkeit zwischen mich und meine Umwelt zu bauen. In meinen Beziehungen habe ich mich immer zurück gehalten und Abstand bewahrt, um mich selbst schützen.
Doch dann ging ich in die Slowakei, in die Mitte vom Nichts und habe mit Romakindern gearbeitet. Und plötzlich war ich mit Zehnjährigen konfrontiert, die genauso eine Wand aufgebaut hatten, nur noch viel dicker. Sie waren nicht in der Lage, ihre Emotionen auszudrücken, nicht einmal, sie zu benennen. Viele von ihnen drückten sich nur durch Aggression aus. Liebevolle Beziehungen kannten und verstanden sie nicht.
Und genau das hatte es für mich gebraucht, um meine eigenen Mauern zu durchbrechen und wieder mein wahres Selbst an andere geben zu können. Plötzlich war ich viel offener, traute mich, verletzlich zu sein und anderen all meine Energie zu geben. Ich wurde nicht mehr durch den Schleier aus Frustration und Gleichgültigkeit von meiner Umwelt getrennt und konnte den Kindern meine Seele preisgeben.
Diese Veränderung hat mich einiges gekostet. Ich wurde verletzt, von verschiedenen Menschen, absichtlich und unabsichtlich. Aber sie hat mir auch unglaublich viel geschenkt. Endlich habe ich keine Angst mehr davor, von anderen Leuten wie ein Buch gelesen werden zu können. Jetzt fürchte ich mich nur davor, mich emotional so von meiner Umwelt abzuschotten, dass ich mein eigenes Buch selbst nicht mehr lesen kann.
Im Umgang mit den Kindern habe ich erfahren, wie wichtig es ist, in Beziehungen 100% von einem selbst zu geben, nicht nur die 70%, die wir in Deutschland gewohnt sind. Erst wenn wir uns mit all unserer Seele etwas verschreiben, können wir echte Fortschritte erreichen und das Leben anderer Menschen ändern. Und gerade den Kindern, die von der Gesellschaft immer wieder abgewiesen werden, kann man nur etwas von Güte und Liebe beibringen, wenn man sie ihnen bedingungslos hingibt.
Ich bin aus dem Ausland als offen, leidenschaftlicher und vor allem glücklich zurück gekommen. Es hat eine Reise bis ans Ende der Welt, wie ich sie kannte, gebraucht, um das wieder zu finden, was ich inmitten meines gewohnten Lebens verloren hatte: Meine Echtheit.