Die Chilenen und ich
Von besonderen Menschen, Schicksalen & Freundschaften
Mein besonderer Mensch - tja, wenn das mal so einfach wäre.
Während meines Freiwilligendienstes in Chile habe ich weder Berühmtheiten noch meine große Liebe getroffen - aber dennoch; einmal angefangen, darüber nachzudenken, hat mich dieses Thema nicht mehr losgelassen: welche Begegnung hat mich besonders beeindruckt oder nachhaltig beeinflusst? Welche Person ist ein großes - vielleicht sogar das größte - Geschenk für mich?
Ich kann es nicht sagen.
Seitdem ich hier bin habe ich so viele freundliche, offene, starke, hilfsbereite, fürsorgliche, auf eine wie auch immer geartete Weise mir imponierende Menschen getroffen, dass ich einfach nicht DEN einen herauspicken kann.
Da ist eine Jugendliche in dem Heim für jugendliche Mütter, in dem ich arbeite, die trotz armem Indigenen-Hintergrund und junger Mutterschaft für ihren Traum, Medizin studieren zu können, kämpft; da ist eine tía, die in besagtem Heim tagtäglich über 8 Stunden arbeitet, und danach noch mindestens genauso lange ihren kranken Vater pflegt; da ist eine 6-Jährige, die ihr ganzes Leben in dem Heim verbracht hat, aber vor Lebensfreude sprüht, mental sogar sehr viel reifer ist und inzwischen „Hoppe Hoppe Reiter“ auf Deutsch singt; da ist ein 2-jähriges Mädchen in dem Heim, das besser und taktsicherer tanzt als viele in meinem Alter; da ist eine andere Freiwillige, die mir die Welt des Wanderns nahegebracht hat (was meine Eltern 18 Jahre lang vergeblich versucht haben) sowie, den Weg tatsächlich als Ziel zu begreifen, und die immer für mich da ist, bei Krankheit, Heimweh, Trauer und in glücklichen Momenten; da ist mein Gastvater, der als Polizist gefühlt fast rund um die Uhr arbeitet, aber trotzdem immer ein offenes Ohr hat und mir in seiner Hilfsbereitschaft zur Seite steht, sei es, dass er meine Zimmertür ölt oder mir frisches Obst mitbringt; da ist meine Gastmutter, die mit ihrem großen Herz, ihrer Fürsorglichkeit und ihrer ungeheuren Gastfreundschaft dafür gesorgt hat, dass ich mich hier in Chile wirklich zu Hause fühle; da ist ein Backpacker, den ich in einem Hostel getroffen habe und der mich tief beeindruckt hat mit seinem mutigen Schritt, ein Jahr lang mit dem Motorrad von Alaska bis nach Patagonien zu fahren; da sind etliche Mitglieder des Chores, in dem ich hier singe, die mich mit ihrer unglaublich offenen Art sofort sehr herzlich aufgenommen haben, mich zu ihrem Geburtstag einluden und ins „vida nocturna“ einführten oder mir zeigten, wo es die beste Pizza der Stadt gibt.
Ich könnte diese Liste noch laaaange weiterführen, denn je länger ich darüber nachdenke, desto mehr „besondere Menschen“ und unvergessliche Begegnungen fallen mir ein.
Alles in Allem kann ich nur feststellen, dass mir die Chilenen insgesamt sehr imponieren: wohin man auch geht, man wird in ein Gespräch verwickelt; wen man auf der Straße auch fragt, einem wird geholfen; mit wem man sich auch unterhält, die Leute reagieren interessiert.
Insbesondere im Vergleich zu der sehr distanzierten Kultur in Deutschland, war diese Art zwar vor allem anfangs überrumpelnd für mich, aber schnell auch etwas, was mir am allermeisten gefällt. Man kommt mit den Leuten ins Gespräch, man lacht zusammen, man ist viel eher vertrauter. Statt mit dem kühlen Handschlag wird man hier grundsätzlich mit Umarmung und Küsschen begrüßt; statt Effektivität steht hier Geselligkeit im Vordergrund - da kann die Arbeit für ein nettes Gespräch ruhig auch noch mal ein paar Minuten warten, im Supermarkt an der Kasse der nächste Kunde aber eben auch.
Für mich sind diese Unterschiede in der Mentalität nicht gut oder schlecht, es sind natürlich auch nicht immer alle genau so, aber ich finde diese Beobachtungen total spannend, und diese Offenheit, diese Herzlichkeit total faszinierend!
Diese „typisch chilenischen“ Eigenschaften - das imponiert mir hier; das erleben zu dürfen, ist ein großes Geschenk für mich; davon hoffe ich, etwas mitnehmen zu können; kurzum: daraus besteht hier mein „besonderer Mensch“.