Behinderte Menschen in einem Land des Wandels
Behinderte Menschen werden in Russland noch immer als Menschen zweiter Klasse behandelt, wenn nicht gar ganz aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen und in Psycho-Neurologischen Internaten isoliert von der Bevölkerung und ihren Familien untergebracht.
Ich möchte mit dem folgenden Bericht über die Zustände, wie jene Menschen in Russland, die jahrelang für die Bevölkerung nicht existierten, leben, informieren. Ich versuche, meine subjektiven Eindrücke sehr vorsichtig zu formulieren und stütze mich vor allem auf Informationen aus wissenschaftlichen Analysen und Berichten.
Das Thema der behinderten Menschen ist in Russland noch immer, zwanzig Jahre nach Beendigung der Sowjetunion, in der Behinderte wegen ihrer Arbeitsunfähigkeit aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen wurden, sehr heikel. Der Ruf der Behinderten ist schwer geschädigt; viele Familien mit behinderten Kindern werden stigmatisiert und als "asozial" bezeichnet, da tatsächlich viele Behinderungen durch Alkoholkonsum während der Schwangerschaft entstehen.
Um einen besseren Überblick zu schaffen, beginne ich bei der Geburt eines behinderten Kindes. Von russischen Ärzten wird meist empfohlen, das Kind in ein Heim zu geben. Diesem Rat folgen 80% der Eltern.
Der Staat gewährleistet nur eine kleine geringe Behindertenrente und keine zusätzliche finanzielle Unterstützung im Bereich der medizinischen Versorgung. Der Familie fehlt, zusätzlich zu den Kosten, die für Förderung und Operationen entstehen, ein Elterneinkommen, weshalb Familien mit Behinderten meistens in Armut leben.
Schlimmer ist für manche Eltern noch, weiter in einer Gesellschaft anerkannt zu bleiben, für die der Anblick und Umgang mit Behinderten immer noch nicht alltäglich ist.
Die Rehabilitations- und Wohneinrichtungen für Behinderte wurden aus der Sowjetzeit übernommen. Vor allem mittel- und schwerstbehinderte Menschen gelten als bildungsunfähig und werden deshalb lediglich in ihren Betten "verwahrt". Unausgebildete und unterbezahlte Pflegerinnen sind für das Füttern, Wickeln und Umziehen zuständig; haben aber weder Zeit noch Muße für eine liebevolle Zuwendung oder Förderung.
Diese leisten in dem Heim, in dem ich arbeite, Mitarbeiter unserer Hilfsorganisation "Perspektivy", die Psychologen, Physiotherapeuten, Logopäden, Kunst- und Musiktherapeuten, Pädagogen und vor allem Freiwillige einsetzt.
Die schwerstbehinderten Kinder liegen rund um die Uhr in ihren Betten, in denen auch gefüttert und umgezogen wird. Viele Kinder wären fähig, zu laufen oder selbst zu essen, aber es fehlt staatliches Personal, um dieses zu fördern. Kinder, die sehr langsam essen, werden mit der Sonde ernährt. Was mich anfangs am meisten erschreckte, war der körperliche Zustand fast aller Kinder: Auch Jugendliche haben oft die Größe eines Kleinkindes, was an der Unterernährung und dem Mangel an Vitaminen liegt. Bei der Verlegung in Erwachsenenheime, in der das Essen qualitativ ein wenig hochwertiger, erleben viele Kinder einen Wachstumsschub.
Oft verbringe ich ganze Morgen damit, alle Kinder in ihre Rollstühle zu setzen, oder mit ihnen Laufen zu üben.
Ich persönlich kann Veränderungen in der Gesellschaft im Umgang mit Behinderten festmachen. Zumindest in den Heimen der großen Städte arbeiten Hilfsorganisationen unterstützend mit und können so die Situation ein wenig verbessern.
Auch was die Behinderten, die bei ihrer Familie leben, betrifft, gibt es einen Wandel:
Es werden Sonderkindergärten und -schulen errichtet sowie Tageszentren und private Förder- und Selbsthilfegruppen. Russland ist längst nicht dort angekommen, wo es russische Politiker gerne sehen würde, nämlich vergleichbar mit westeuropäischen Standards, aber es befindet sich auf dem Weg dorthin.
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