2008-LT-10 EVS in Litauen (also quasi in Lettland und der DDR)
Kaum in Vilnius angekommen, steht Spalva auch schon der erste Abschied bevor: Ihre Mitbewohnerin bricht ihren EVS ab. Denn nicht alle Freiwilligen kommen mit der Armut des Landes so gut klar wie Spalva...
"Ich habe große Neuigkeiten."
Genau das sagt Steffi zu mir, als ich, nachdem ich von der Arbeit nach Hause komme, an ihrer Zimmertür anklopfe, um sie zu fragen, ob sie mit mir Abendessen will. Sie wird ihr EVS hier in Vilnius abbrechen. Zuerst habe ich das Gefühl, dass diese Neuigkeit aus heiterem Himmel kommt, doch als wir darüber reden und ich darüber nachdenke, merke ich, dass es doch einige Anzeichen gegeben hat.
Noch gestern Abend habe ich mir darüber Sorgen gemacht, dass sie und ich uns, obwohl (oder weil?) wir in den letzten Tagen sehr viel Zeit miteinander verbracht haben – vom Einkaufen angefangen bis zum Ausflug an den See, zu den gemeinsamen Abendessen – manchmal nicht zu viel zu sagen haben, dass sie etwas zu cool wirkt, nicht oft bei Sachen, die ich über mich erzähle, nachfragt.
Jetzt merke ich, dass das alles einen guten Grund hatte: Sie konnte nicht entspannt sein, konnte die Zeit nicht genießen, konnte sich nicht für mich interessieren, weil sie mit sich selbst beschäftigt war, und sich sehr zusammenreißen musste, um sich überhaupt einigermaßen glücklich zu geben.
Sie vermisst ihre Familie, hat kaum geschlafen in den letzten Nächten, hat sich noch kein einziges Mal so begeistert und hyper gefühlt, wie es mir jetzt schon öfter passiert ist, in den letzten Tagen.
Sie ist erschrocken und entmutigt beim Anblick von Häusern in und um Vilnius, die weniger gut in Schuss oder gar verfallen sind, von unserem Wohnheim, dessen Sanitäranlagen vielleicht nicht 100 % deutschen Standards entsprechen und von Männern und Frauen, die unweit von unserem Wohnheim im Müll nach noch Brauchbarem suchen.
Nicht nur mich und vielleicht euch überrascht das, schließlich muss sie sich doch darauf eingestellt haben, so etwas zu erleben – auch Steffi kann sich selbst nicht verstehen und ist wütend auf sich, dass das alles sie so sehr mitnimmt.
Doch was soll's, sie hätte diese schwere Entscheidung nicht getroffen, wenn es noch anders für sie tragbar gewesen wäre, schließlich kommen bei ihrer Rückkehr nach Deutschland noch ganz andere Probleme auf sie zu.
(Ich möchte mir nicht vorstellen, wie schwer es ist, jedem einzelnen Menschen, den ich kenne und dem ich erzählt habe, dass ich für ein Jahr nach Litauen gehe, nun diese Neuigkeiten zu überbringen. Falls ich also aus mir bisher noch unvorstellbaren Gründen ebenfalls früher nach Hause zurückkehren sollte, bitte macht mir das Leben nicht zu schwer.)
Aber es ist beinahe gemein Steffi gegenüber, wie sehr mich ihr Abschied in meiner Entscheidung hier zu sein bestätigt. Nachdem ich gestern Abend etwas trübsinnig wurde, als ich die Fotos von unserer letzten gemeinsamen Feier ansah (vielen Dank noch mal dafür), hatte ich heute einen guten, ersten wirklichen Tag bei der Arbeit (dazu gleich mehr), der mich euphorisch nach Hause zurückkehren lässt, wo ich auf Steffi und ihre Neuigkeiten treffe.
Jetzt, da ich weiß, wie sie in den letzten Tagen mit sich gehadert hat, fühle ich mich sehr viel besser, die kleinen Zweifel des gestrigen Abends sind wie verflogen – natürlich hat man gelegentliche kleine Bedenken, aber es ging mir ja keineswegs schlecht, ich hätte es noch nicht einmal Heimweh genannt – und ich weiß, dass ich hier richtig bin.
Ich kann mir sehr wohl vorstellen die nächsten 12 Monate hier zu verbringen, finde unseren Dorm (Wohnheim) nicht all zu schlimm, kann mit angelaufenen und gebrochenen Spiegeln, dunklen Duschkammern, einem Duschvorhang, der einem sobald man das Wasser aufdreht wie von Geisterhand gespenstisch entgegenfliegt und sich nicht zurückhalten lässt, einem Gasherd und einer mehr als schlecht ausgestatteten Küche gut leben.
Steffi denkt, ich sehe das alles mehr wie ein Abenteuer und habe in den letzten Tagen über viele Dinge gelacht, die sie erschreckend fand. Yes I am up for adventures and this is just the beginning.
Nun zu meiner Arbeit.
Bereits nächste Woche werde ich von Montag bis Freitag mit den Kindern, die an unserem "Big Brother Big Sister" Programm (BBBS), den Freiwilligen, also ihren großen Brüdern oder Schwestern (in diesem Programm hat jedes Kind einen Freundschaftsvertrag mit einem großen Bruder/ einer großen Schwester abgeschlossen, die ihnen als Vorbilder dienen und mit denen sie am besten mehrmals in der Woche gemeinsam etwas unternehmen) und zwei Psychologen von PVC (Paramos Vaikams Centras, meine Organisation), Inga und Jurate, auf ein Camp circa 100 km südlich von Vilnius fahren.
Wir werden dort in einer Art Jugendherberge mitten im Wald an einem See wohnen und viele gemeinsame Spiele und ähnliches unternehmen. Deswegen werden wir die ganze Woche lang uns auf dieses Camp vorbereiten, wobei mir verschiedene Aufgaben, wie Spiele vorbereiten, zugeteilt wurden, die ich im Laufe der Woche, beinahe wann immer ich will, erledige.
Ab September werde ich dann, wie es aussieht, meine eigene Gruppe vielleicht zwei mal pro Woche für die Kinder anbieten, in denen wir gemeinsam Malen und Basteln werden.
Soweit auf jeden Fall der Plan. Es gibt zwei meiner Meinung nach recht essenzielle Probleme. Erstens das kleinere Übel: Es gibt kein Geld, um Materialien hierfür zu kaufen (gut ich bin kreativ, mir wird schon etwas einfallen). Und zweites, was ich als viel einschneidender empfinde: Ich kann nicht mit den Kinder kommunizieren, meine Litauischkenntnisse sind noch sehr begrenzt und das wird sich bis September bestimmt auch nicht in beträchtlichem Maße ändern. Doch Inga ist zuversichtlich, dass es irgendwie klappen wird, deshalb will ich mir jetzt noch nicht all zu viele Sorgen machen.
Alle Mitarbeiter in meiner Organisation, die ich bis jetzt getroffen habe, sind überaus freundlich und geben sich Mühe, mit mir Englisch zu reden (die meisten sprechen wirklich sehr gutes Englisch), obwohl sie erst letztes Jahr sehr schlechte Erfahrungen mit einem EVS Freiwilligen gemacht haben.
Gian-Luca (oder so), aus Italien war bereits 30 und ausgebildeter Ergotherapeut und nach drei Monaten mittelmäßiger Arbeit (er war manchmal unzuverlässig gewesen), eines Tages nach zwei Wochen Urlaub einfach nicht mehr zur Arbeit erschienen.
Nach einigen Nachforschungen hatte sich dann herausgestellt, dass er ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen, weder seiner Koordinationsorganisation, noch seinen Mitbewohnern, einfach nach Italien zurückgekehrt war, angeblich aus persönlichen Gründen.
Verständlicherweise sind deshalb, so hat mich Inga vorgewarnt, manche Mitarbeiter von Paramos Vaikams Centras einem EVS Freiwilligen eher skeptisch gegenüber, allerdings muss ich persönlich sagen, dass ich so etwas selbst noch nicht gemerkt habe. Viel mehr überrascht mich, dass alle Mitarbeiter, die ich bis jetzt getroffen habe, nichts von meinem Kommen gewusst zu haben scheinen und selbst die Chefin (die übrigens sehr lieb ist) mich fragt, wie lange ich hier bleiben werde und ob ich Psychologin bin.
Hat Inga denn alles alleine geplant und all die Bewerbungen durchgelesen? Wenn sich ein geeigneter Zeitpunkt ergibt, werde ich sie danach fragen.
Auf jeden Fall durchströmt mich nach dem ersten Arbeitstag wieder einmal dieses in Deutschland so seltene Gefühl, dass allerdings in Neuseeland schon ein Dauergast war und ich sonst nur von Momenten wie einem lang ersehnten Wiedersehen, dem letzten Schultag, dem letzten Abitur oder dem Anblick berauschender Landschaft kenne.
Es ist dieses Gefühl von Freiheit, dieses Ziehen im Bauch, dass sich langsam in den ganzen Körper ausbreitet und weswegen man das Gefühl hat, als würde man gleich abheben. Also hüpfe ich, fliege ich nahezu die aztekenartigen Treppen auf meinem Nachhauseweg hinauf und freue mich über alle Menschen, die mir schlecht gelaunt drein schauend auf der Straße begegnen.
Weil ich jetzt hier sein darf.
"There are moments when you feel that you are really living not just existing", hat meine Lena E. mir im letzten Jahr einmal geschrieben und es erinnert mich an "das Gefühl von Abenteuer".
"Nichts hat sich verändert, und doch existiert alles auf andere Art. Ich kann es nicht beschreiben, das ist wie der Ekel, und doch ist es genau das Gegenteil: endlich erlebe ich ein Abenteuer, und wenn ich mich befrage, begreife ich, dass ich erlebe, dass ich ich bin und dass ich hier bin; ich bin es, der die Nacht durchfurcht, und ich bin glücklich wie ein Romanheld. […]" (Der Ekel, Jean-Paul Sartre, Seite 89).
Mit diesem Zitat aus diesem faszinierenden Buch, dass ich euch allen ans Herzen legen möchte (und bestimmt schon getan habe), bin ich für heute fertig. Eigentlich gibt es noch von vielen Eindrücken zu berichten, doch es ist schon spät.