Starthilfe
Nach meinem EVS sehe ich die Welt mit anderen Augen, irgendwie schärfer – und das liegt in diesem Fall nicht an meiner Brille.
Als die Tür ein letztes Mal hinter mir ins Schloss fiel, fragte ich mich stirnrunzelnd: „Das soll es jetzt gewesen sein?“ Irgendwie war dieses Ende kein Ende, dieser Abschluss kein Abschluss, die letzte Verabschiedung eigenartig, denn im Kopf war immer noch, dass man sich ja am nächsten Tag – oder spätestens nächsten Montag – wiedersehen würde.
Am Ende meines Freiwilligendienstes stand keine Antwort, sondern eine Frage. Das ist charakteristisch für meinen EVS als Ganzen. Ich suchte nach Antworten und fand Fragen. Allerdings konfrontierte mich die Zeit auch mit Fragen, die ich mir daheim nie gestellt hätte: „Welches Land ist jetzt nochmal Litauen und welches Lettland?“, „Was ist ein Feinwaschgang?“ und „Ist Europa vielleicht doch mehr als Städtereise nach London und Urlaub auf Sardinien?“
Vor meinem EVS sah ich die Welt noch recht unscharf. Der Kurdenkonflikt, die Ostukraine, das ließ sich in der Ferne erahnen, doch was dahinter steckte? Das wusste man dann irgendwie doch nicht. Zu weit weg, zu fremd diese Probleme. Bis man dann auf Menschen traf, die es betraf. Plötzlich waren es nicht mehr auf Schlachtfeldern ausgetragene Gebietsstreitigkeiten, sondern ein leises Bedauern in einem Nebensatz am Esstisch. Ob nun Kurden, Ukrainer oder Russen – der EVS versammelte all diese Menschen und ließ einen innereuropäischen Austausch zu. Es gab nicht länger ich und du, nah und fern, sondern nur noch ein Wir-Gefühl. Wir für uns, wir für Frieden, wir für Europa.
Der Freiwilligendienst hat mich zu einem neugierigeren Menschen gemacht. Die Neugier vereinte Aspekte wie Kultur, Gesellschaft und Politik. Ein Daheimgebliebener hat dafür schlichtweg keinen Bedarf, denn er ist von Gleichen und Gleichem umgeben. Beim EVS war das – vorsichtig ausgedrückt – ein wenig anders. Es galt, nordische Kühle mit spanischem Temperament, Ordnungsliebe mit Chaostheorie in Einklang zu bringen. Das Aufeinandertreffen all dieser Unterschiedlichkeit führte letztlich dazu, dass man sich der tatsächlich wichtigen Dinge im Leben bewusst wurde.
Der EVS lebt von der Praxis, nicht von der Theorie. Und so erlebte meine Abenteuerlust eine Renaissance. Früher war das Zelten auf dem Zeltplatz schon das höchste der Gefühle – heute blicke ich auf eine Bilanz zurück, die enkelerzählungswürdig ist. Zugegeben, auf Tschechiens höchstem Gipfel unter freiem Himmel zu übernachten gehört nicht unbedingt zum Standardprogramm eines jeden EVS, doch er bietet die Basis dafür. Man hat die Zeit, die Freiheit und die Leute, um sowas durchzuziehen. Das einzige, was einen aufhalten kann, ist man selbst. Macht man das nicht, so kann man während des EVS eine Fülle an Erfahrungen sammeln.
Ich kann nach all der Zeit nicht behaupten, ein neuer Mensch geworden zu sein, wohl aber ein anderer. Der EVS ist ein Mikrokosmos, in dem Vieles geschieht, dessen Inhalt sich jedoch nur schwer nach außen tragen lässt. In den Zeilen, Bildern und Geschichten, die die Freiwilligen in die Welt hinaus tragen, liegt die Essenz des EVS verborgen. Seine wirklichen Ausmaße kann man allerdings nur am eigenen Leib erfahren. Der EVS hat es geschafft, besser als jede Währungsreform und jeder gemeinsame Industriestandard zu unterstreichen, für was Europa eigentlich steht. Menschen aus allen Winkeln Europas konnten sich an einen Tisch setzen und friedlich miteinander diskutieren. Wo hat man das sonst?
Die europäische Erkenntnis: wir sind nicht allein. Im Gegenteil: es ist ein gar winziger Fleck Erde, den wir uns teilen. Am Ende des Tages wird ersichtlich, dass alles zusammenhängt, dass Entscheidungen, die wir in Deutschland oder die Ungarn in Ungarn treffen, sich nachhaltig auf die Zukunft aller auswirken.
Was ich in der Schule nicht lernte, lehrte mir der EVS. Er war gewissermaßen eine Nachhilfe in Leben. Der EVS mag auf den ersten Blick wie ein Sprung ins kalte Wasser wirken, offenbart sich schlussendlich hingegen als lohnenswerter Schritt in eine Zukunft mit Europa.
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