Hinter der Mauer
Ein Jahr als Freiwillige in Bethlehem, Palästina - zwischen Kinderlachen und Tränengas.
Ich schließe meine Augen und stehe das erste Mal vor dieser acht Meter hohen Mauer, die mein neues Zuhause hinter sich einschließt, bin schockiert, wie real sie plötzlich ist, dieses Monstrum aus Beton. Jenseits der Mauer: von da an fühle ich mich beklommen, wenn ich auf die andere Seite muss und atme jedes Mal auf, wenn ich wieder zurückkomme, weil ich mich hier, in dieser Art Gefängnis, das Sie für Euch erschaffen haben, seltsam freier fühle.
Ich schließe meine Augen und rieche wieder das Tränengas, will sie öffnen, weil sie anfangen zu brennen. Ich höre die Freiheitslieder die Ihr singt, sehe die Plakate Eurer Söhne, die Sie verhaftet haben und die Ihr jetzt in die Höhe haltet, während Ihr auf die Mauer zulauft, aus der schon die Soldaten kommen und beginnen, mit Tränengas auf Eure Kinder zu schießen.
Ich schließe meine Augen und stehe wieder neben Dir am Checkpoint. An einem von vielen Checkpoints, die Du täglich überwinden musst. Sie reden unfreundlich mit Dir, für Sie bist du nur einer von vielen… Terroristen, die da auf der anderen Seite der Mauer leben. Ich werde lächelnd nach vorn gewinkt, ich müsse mich doch nicht mit denen anstellen. Sie sehen meinen roten Reisepass und fragen nicht weiter. Ein Stück Papier, das mich freier macht als Euch - ein Privileg, das mir einfach so in die Wiege gelegt wurde.
Ich schließe meine Augen und sehe die Sehnsucht in den Deinen, als Du mir von einem Zuhause in Haifa oder Yaffa erzählst und mir den Schlüssel zu dem Haus zeigst, das Sie Deiner Familie weggenommen haben. Du warst selbst noch nie dort, Sie erlauben es nicht, weil Sie dort drüben Angst vor Dir schüren. Aber Du kämpfst weiter und gibst nicht auf. Du wurdest als Flüchtling geboren und tust alles, um nicht als Flüchtling zu sterben.
Ich schließe meine Augen und rieche Kaffee und schmecke wieder gefüllte Weinblätter, Msakhan, Knafe und all die anderen Köstlichkeiten, die Deine Küche mir geschenkt hat. Ich öffne meine Augen und versuche erfolglos, sie ohne Deine Gewürze nachzukochen. Stehe hier im Supermarkt und schaue fassungslos auf die Preise für das geschmacklose Obst, das ich bei Dir einfach so von den Bäumen pflücken konnte.
Ich schließe meine Augen und höre Kinderstimmen, spüre kleine Hände, die an mir ziehen, weil sie spielen, malen, skaten wollen. Ihr lacht, wenn ich mich in Eurer Sprache verspreche und seid fasziniert, wenn ich in meiner rede.
Ich schließe meine Augen und schaue in Eure Gesichter, die mich anlächeln und mich freundlich fragen, ob sie mir weiterhelfen können. Ihr ladet mich zum Essen ein, kocht mir Tee, wenn ich bei euch Gewürze kaufe, erklärt mir den Weg nicht nur, sondern geht ihn mit mir, kennt die Ausländerin in Eurer kleinen Stadt und wollt, dass es ihr gut geht.
Ich schließe meine Augen und höre wieder Deine Musik, die so lebendig ist, zu der Ihr die besten Partys schmeißt und auf der Straße tanzt. Ich höre sie und tanze wieder mit Dir, kann die Schritte zwar nicht, aber werde mitgerissen.
Und als ich meine Augen wieder öffne, da weiß ich es plötzlich zu schätzen, dieses Privileg - die Freiheit - und fange an, zu überlegen, wie ich die meine wohl möglichst sinnvoll einsetzen kann.
Ich öffne sie wieder und möchte versuchen, etwas von der Freundlichkeit und Warmherzigkeit, die Du mir gezeigt hast, mit in mein altes neues Zuhause zu bringen.
Ich reiße meine Augen weit auf und weiß, dass ich nicht wieder in den üblichen Trott verfallen kann, nicht weiter schweigen kann und es auch nicht möchte. Ich will all das Unrecht, das ich gesehen habe laut in die Welt hinausbrüllen, damit es vielleicht Einer hört und auch seine Augen öffnet.
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