Der Kakerlakenbecherblues ODER Wie man sich einlebt
Die Zeit vergeht rasend schnell, es gibt viel zu tun und ich komme gar nicht hinterher, meine Gedanken aufzuschreiben und weiterzugeben.
Es bildet sich etwas wie ein Alltag heraus. Ich bin nicht mehr ueberrascht, wenn ich um 4.30 Uhr morgens von lateinamerikanischer Musik geweckt werde, hab gelernt das viele Essen in verschiedene Maegen zu verteilen und weiss nun, wie ich es schaffe eine Horde Kinder fuer anderthalb Stunden zu beschaeftigen. Der Schock des Ankommens ist ueberwunden. An Eindruecken ist die Zeit natuerlich immernoch reich, jedoch bin ich nicht mehr voellig erschlagen davon, es ueberfordert mich nicht mehr so arg, sondern ich kann es nun von einem anderen Blickwinkel aus sehen. Einem, von dem Kolumbien nicht mehr nur neu fuer mich ist, sondern ich erkennen kann, wie wunderschoen es hier ist. Mir gefaellt die Landschaft Cundinamarcas, mir gefaellt die Arbeit mit den Kindern, weil wir langsam Vertrauen zueinander fassen, auch gefaellt mir das vielseitige Treiben in der Millionenstadt Bogota, in die wir fast jedes Wochenende fahren. Vor allem geholfen hat auch die Kommunikation mit den Tias in der Fundacion. Als wir uns eines Nachmittags der letzten Woche mit Tia Anita, der leitenden Person der Stiftung zusammengesetzt und ueber unsere Aufgabe geredet haben, kam schon viel Licht in unsere relativ spontane und etwas chaotische Freiwilligentaetigkeit. Gemeinsam arbeiteten wir einen Wochenplan heraus, auf dem der Schulbesuch montags und donnerstags und die taegliche Nachmittagsbetreuung von 15 bis 16 Uhr mit den Kleinsten in der Stiftung (5-7Jaehrige) festgeschrieben steht. Davor machen wir jeden Tag mit ihnen gemeinsam die Hausaufgaben.
In Casa Tres, dem Haus in dem wir Freiwilligen leben, steht tagsueber eigentlich immer die Tuer offen, weil es sich dort sonst wie in einem Treibhaus aufheizt. Es ist also nicht verwunderlich, dass wir mit einer handvoll Kakerlaken zusammenleben. Das spartanisch eingerichtete Wohnzimmer bietet nicht besonders kreative Wege, sich des Ungeziefers zu entledigen, daher hat sich der Kakerlakenbecher etabliert. Mit diesem Becher, urspruenglich mal ein Kerzenhalter, fangen wir die Kakerlaken und werfen sie raus. Kein Problem und ganz normal eben. Aber muss sich diese Normalitaet, diese Alltaeglichkeit erstmal einstellen, und das geht bloss ueber einen laengeren Zeitraum. So wissen wir nach knapp einem Monat in San Francisco, wo wir am guenstigsten im Dorf Popcorn mit Karamell- und Kaesegeschmack kaufen koennen, wo man beim Eisessen das netteste Gespraech fuehren kann (natuerlich bei den Eis-Tias im ersten Laden bergabwaerts) und dass man Mandarinen nach dem Pfluecken erst auf den Boden werfen muss, damit sie sich leichter oeffnen lassen. Das alles, dass man lernt und Erfahrungen macht und mit diesem Wissen anders handelt, das nenne ich den Kakerlakenbecherblues. Das Verstehen und Einfuehren von Kniffen und Tricks, die den Alltag erleichtern. Auch in anderen Bereichen ist uns dies nuetzlich. Es ist hilfreich zu wissen, dass Juliana im Englischunterricht am liebsten das Spiel Loteria spielt und dass die Tias es gar nicht gerne sehen, wenn jemand vor 15 Uhr draussen spielt. Auch was die Sprache betrifft lernen wir viel Neues jeden Tag, jedoch ist das ein eigenes Thema, was ich mir gerne fuer spaeter aufheben moechte.
Einige meiner Sternmomente derzeit Doppelpunkt (ich schreibe diesen Artikel aus einem Hostel in Bogota, und auf dieser Tastatur finde ich einige Satzzeichen leider nicht)
- die Messe von Papa Franziskus im Wohnzimmer der Tia mit allen aelteren Kindern, also ungefaehr mit 20 Leuten zu schauen, weil die Fundacion keine Satellitenschuessel hat
- als wir in der Schule dem Erdkundeunterricht beiwohnen und ein Kind die Frage, wie unser Planet heisst, enthusiastisch mit "COLOMBIA" beantwortet.
- dass naechste Woche Mittwoch noch 2 weitere Freiwillige aus Deutschland in die Fundacion kommen und unsere kleine Freiwilligen- WG vergroessern werden
Manchmal fehlt mir noch die Weitsicht oder der Optimismus, dass sich das obengenannte Phaenomen noch weiter ausbreiten wird und ich mich hier immer weiter einleben und zu Hause fuehlen werde. Aber ich bin sicher, dass ein schwieriger Teil schon geschafft hinter mir liegt. Die erste Welle, dass mir meine Liebsten daheim in Europa fehlen, ist ueberstanden und ansonsten gibt es fuer mich bislang noch nicht das Heimweh. Ich bin sehr gluecklich, dass ich die Chance habe, in diesem besonderen Land mit so vielen interessanten und liebenswerten Menschen zu sein und freue mich, dass ich noch so viel Zeit habe.
Uuuuund ich danke allen Leuten, die diesen Blog lesen und mich mit ihren tollen Kommentaren aufbauen und unterstuetzen. Ich weiss das sehr zu schaetzen und freue mich darauf jedes Mal, wenn ich bei Youthreporter reinschaue. Vielen Dank Doppelpunkt - ) !!
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