Wie die letzten Monate so waren im Büro
Stress, Hektik, Verzweiflung, Tatendrang, Überwindung und das miese Gefühl, nur 50 Prozent zu verstehen - Schulplatzierungsalltag für Austauschschüler in Schweden.
Schulplatzierungen für Austauschschüler sind eine heikle Angelegenheit im Interessensdreieck Schule, Schüler und Gastfamilie. Aber ich sollte mal mit dem schwedischen Schulsystem anfangen:
Es gibt ein nationales Schulgesetz, aber die Schulen an sich gehören den Gemeinden, die selbst bestimmen, wie sie ihre Schulen organisieren. Von Klasse 1 bis Klasse 9 geht man auf jeden Fall gemeinsame Wege. Das heißt, dass es so etwas wie Grund-, Sekundar-, Real- , Stadteil-, Ober-, Poly- oder Hauptschule gar nicht gibt, sondern alles eine Einheitsschule ist, die auf deutsch übersetzt aber Grundschule heißt und da gibt es dann keine 16 Schulsysteme und keine Landespolitiker, die irgendwie immer alles besser wissen müssen als deren 15 Kollegen. Nach der Grundschule, die für alle verpflichtend ist, kann man ein dreijähriges Gymnasium besuchen, was eigentlich alle schwedischen Schüler machen.
Die Gymnasien wiederum sind in zwei Zweige unterteilt: einen berufsvorbereitenden und einen hochschulvorbereitendem Zweig (manche berufsvorbereitenden Zweige ebnen aber auch den Weg in die Uni, wenn bestimmte Fächer belegt werden). Innerhalb der Zweige gibt es dann Äste, die sogenannten Programme. Für eines muss man sich zu Beginn entscheiden, das hat man dann drei Jahre. Hochschulvorbereitende Programme sind zum Beispiel samhällsvetenskap (so etwas wie Gemeinschaftskunde), naturvetenskap, teknisk program, estetisk program (Kunst), idrottsprogram (Sportschwerpunkt), ekonomiprogram (Wirtschaft). Berufsvorbereitende Programme, sogenannte yrkesprogram können sein el- och energieprogram (Elektronik), handels- och administration, handverksprogram, hotel och turism, byggprogram (Bauen). Innerhalb der Programme, sozusagen an den Ästen hängend wie Weihnachtskugeln, kann man, wenn es die Schule anbietet, verschiedene Schwerpunkte wählen. Im Wirtschaftsprogram zum Beispiel Recht oder BWL, Naturwissenschaften bieten das Pipapo von biochemischphysikalischem Donnerwetter, im Kunstprogramm gibt es dann u.a. die Schwerpunkte Tanz, Musik, Fotografie, Bild und Form und Gemeinschaftskunde könnte mit einem Sprachschwerpunkt oder Medienschwerpunkt oder Sozialschwerpunkt aufwarten. Da sich Äste naturgemäß verzweigen und sich irgendwo kreuzen, gibt es auch Schulen, die Kombinationen anbieten.
Kurz gesagt: das Schulwesen ist ein Mosaik aus etwa 20 Progammen, die wiederum etwa 50 verschiedene Schwerpunkte beinhalten (darunter auch so unglaublich abgefahrene Sachen wie Rockmusik, Pferdekunde, Forstkunde, Film, Flugzeugkunde,…)
Das einfach mal zum Verständnis, was man in den Schulen alles Lernen kann, bzw. in welchem Gebietschema ich mich bei den Platzierungsoptionen der Austauschschüler bewegte. Die Schulen, die wir anfragen, werden übrigens von den Gastfamilien vorgeschlagen.
Diese Mission ist auch eine Schlacht gewesen, die viel Geduld verlangt. Das Prozedere fing ja schon im Mai an, als wir alle möglichen Schulen angefragt haben. Die Rücklaufquote war aber so gering, dass man darauf nicht bauen konnte. So richtig los ging es im Juni, aber eher sacht. Die Schule war vorbei und die Examensfeiern der Abschlussklassen waren voll im Gang (da fuhren dann LKWs mit Housemusik durch die Straßen, auf der Ladefläche 40 Chamapgner trinkende Abschlussschüler, deren Abschlusskostüme wie eine Mischung aus Geschäftsmann und Matrose aussehen). Die Rektoren meist schon alle in Sommerstimmung und die Antwortquote war gering.
Der Juli war der absolute Horror. Da ging mal gar nichts. Da schien die ganze Zeit die Sonne und ich übertrug meinen Ohrschweiß ans Telefon. Die Schweden sind nämlich ein sommerurlaubswütiges Volk und die Ansagen auf den Anrufbeantwortern lauten dann meist…
- ja hej, du har ringd till Lars Henrik Sundberg. Jag är på semester och återkommer den 13 augusti
oder eine Computerstimme, meist weiblich streng, hielt dagegen:
-anknikning 35 17 är på semester till och med den åttonde augusti. (wohlgemerkt, es war Anfang Juli und bis Anfang August erreichte man so gut wie niemanden, obwohl Mitte August alle Austauschschüler anreisen sollten).
Und dann August. Dann, als alle aus dem Urlaub zurück sind. Stresswoche im Büro. Das war ein einziger Platzierungsmarathon für die Gastschüler. Dutzende Mails pro Tag, Anrufe hier, Gasteltern dort, mein Schreibtisch eine Halde aus unsortierten Notizzetteln voller Namen und Nummern und Zahlen, ein immerwährender Kampf um allen Interessensbombardements gerecht zu werden. Zuerst waren die Rektoren sechs Wochen im Urlaub und als sie dann endlich alle zurück waren, hatten sie keine Zeit. Und immer wieder und immer wieder anrufen. Lars Henrik Sundberg är på möte och återkommer klockan 16. Und um vier dann. Lars Henrik Sundberg är inte på kontoret. Han kan ringas imorgen. Und es gab 50 Lars Henrik Sundbergs und alle waren irgendwann irgendwie zu ganz bestimmten Zeiten nur zu erreichen. Meine wichtigste Werkzeugkombination war Zettel, Stift und Wörterbuch. Und dann hat man ihn endlich nach sieben Tagen am Telefon und sein Schwedisch ist so dialektverseucht, dass ich nix verstehe und ich höflich darum bitte, englisch zu reden, was meist bejaht wird und so stelle ich die Fragen, die gestellt werden müssen auf englisch und es gibt Sundbergs, die antworten trotzdem auf schwedisch mit allerschlimmsten Dialekt aus Südschweden, der wie eine andere Sprache klingt.
Aber generell war es machmal so unangenehm am Telefon. Wie sehr es mich angekotzt hat, nicht ausgewogen diskutieren zu können, weil ich nicht wusste, wie ich es hätte sagen können, weil mir Wörter und Rhetorik abhanden gekommen sind inmitten dieses Kauderwelschs aus Sprache und Stotterei.
Es gab Momente, da fühlte ich mich so hilflos, da musste ich aufpassen, nicht an Stellen zu lachen, die ich nicht verstand.
Es gab aber auch Sundbergs, die waren superkuhl drauf:
- Austauschschüler? Kein Problem. Nehmen wir doch gerne, da haben wir immer Spaß an so Leuten. Der kriegt Sprachkurs bei uns und wir werden sehen, welches Programm passt (juhuuu…die Evolution hat Menschen hervorgebracht, die koorperieren).
Dann gabs aber auch Sundbergs, die waren so hartnäckig wie antibiotikaresistente Bakterieren:
- Kann der Schüler denn schwedisch?
- Nee, wie ich eben erwähnte, kommt Nattapong aus Thailand. Ich glaube nicht, dass er dort schwedisch gelernt hat. Aber nach drei Monaten können sie in der Regel so viel verstehen, um zu ahnen, um was es geht.
- Ja nee, dann können wir den Schüler leider nicht nehmen.
Oder:
- Welches Programm soll der Schüler denn nehmen?
- Ist fast egal. Wenn es geht, so praktisch wie möglich, dann wird es anfangs leichter und spannender, wenn es mit der Sprache noch nicht so gut läuft.
- ja wie jetzt? Du musst mir schon sagen, in welches Programm wir den Schüler möglicherweise platzieren sollen.
- Ja, der hat gute Noten in Bio und Chemie und ausgezeichnet in Physik ist er auch. Naturwissenschaft passt hervorragend.
- Hmm… is schon voll…
- Dann was allgemeineres vielleicht, Gemeinschaftskunde?
- Hmm…auch voll…ich glaub, dann können wir den Schüler nicht nehmen. Tschüss…
Und dann gab es auch Gastfamilien, die die Schule, die sie selbst für den Schüler vorgeschlagen haben, plötzlich doof finden und verlangen, dass wir Platzierungen rückgängig machen, wobei wir das kategorisch ablehnen. Das fällt denen zu spät ein und solange wir im Büro kein Problem mit der Schule sehen, stellen wir uns diesen auch nicht in den Weg. Die brauchen wir alle nächstes Jahr wieder.
Dieser ganze Platzierungswahn lief so schleppend. So unglaublich demotivierend war das manchmal und so unglaublich stolz und froh fühlte ich mich, wenn in der Exceltabelle ein Feld mehr endlich endlich endlich eine grüne Farbe bekam.