Perpetuum Mobile: Warum ich ankomme und doch ständig in Bewegung bin
“Der Weg nach Dadía ist leicht – aber einmal angekommen, gibt es kein Zurück!”, so lautet ein altes Sprichwort hier.
Fieldwork, also Arbeit im Nationalpark und der Umgebung, habe ich trotz des immer kühleren Wetters noch sehr viel. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass Alba am ersten November abgereist ist und ihren Freiwilligendienst abgebrochen hat. Jetzt sind wir nur noch sechs Freiwillige, die für die zahlreichen Aufgaben zur Verfügung stehen. Eine weitere Mission innerhalb des Nationalparks habe ich diese Woche machen dürfen, als ich “Pellets”, also Gewöll sammeln war: Um die Essgewohnheiten der Vögel untersuchen zu können, wird die Umgebung der Nester in der unbewohnten Zeit nach Knochen und Gewöll von den Beutetieren untersucht. Das ist nicht immer einfach: Ein Nest war an einem Felsen in der Nähe des Dorfes Nea Santa zu finden, das in einem malerischen Tal mit Feldern, Hügelketten und Flüssen liegt. Da Ela, Mitarbeiterin des WWFs, in Dadía kürzlich ein Kletterseminar gemacht hat, war es ihre Aufgabe, das Nest zu leeren, während José, Malte und ich unterhalb des Felsens nach verwertbaren Spuren suchten. Auch mit Petros, der den Nationalpark seit seiner Kindheit kennt, Förster ist und gleichzeitig für das Eco-Tourismuszentrum und den WWF arbeitet, waren wir unterwegs. Er kennt fast alle Pfade im Park, findet immer einen Weg, hat einiges über die Geschichte des Parks und dessen Nutzung zu erzählen. Durch ihn habe ich auch erfahren, woher Dadía seinen Namen hat (nachzulesen unter http://jasminzl.wordpress.com/das-projekt/). Zweimal hat Petros uns Freiwillige zu einem Point für das Vegetationprojekt geführt, für das ich zu meiner Freude noch dreimal im Park unterwegs war. Beim Pellets sammeln hat er uns ein Nest gezeigt, dass bereits seit dreizehn Jahren von einem Vogelpaar bewohnt wird und auch den Brand im südwestlichen Teil des Parks unbeschadet überstanden hat, obwohl die Rinde des Baumes, auf dem das Nest sich befindet, die schwarzen Spuren des Feuers trägt.
Auch im Observatorium bin ich regelmäßig – zwei Lektionen hatte ich noch bei José und Giacomo, der mich einen Vogel im Flug bestimmen lies und mir wieder einmal zeigte, was es alles zu lernen gibt. Mithilfe des Vogelführers (legitimes und unverzichtbares Hilfsmittel) habe ich es aber hinbekommen. Auch Rodoula traut mir inzwischen zu, die Protokolle sorgfältig und richtig auszufüllen und so durfte ich diesen Montag bereits alleine ins Observatorium. Als Willkommensgeschenk bekam ich eine große Zahl Geier, Black Kites und White-tailed Eagles in allen Altersklassen, sodass ich mich gleich im Identifizieren üben konnte.
Doch nicht nur bei der Arbeit erkunde ich immer mehr von der Umgebung: Es gibt im Nationalpark vier ausgeschilderte Pfade, die durch zauberhaft-verwunschene Waldstücke oder über imposante Felsen führen. Zwei dieser Pfade, den “Orange Path” und den “Yellow Path” habe ich mir diesen Montag vorgenommen und war so lange unterwegs, dass ich es gerade noch rechtzeitig aus dem Dickicht des Waldes geschafft habe, bevor die Sonne unterging…
Habe ich im Nationalpark einmal nicht so viel zu tun, halten mich die anderen Freiwilligen auf Trab oder ich mache die Bekanntschaft anderer netter Menschen: Zwei Französinnen, von denen eine eine Bekannte von Bony ist, die sie auf dem Seminar kennengelernt hat, und die andere ihre Freundin ist, die für zwei Wochen aus Frankreich zu Besuch kam, haben mit uns Ende Oktober das Nest geteilt. Seit gestern haben wir Besuch von Laura und Katja, zwei deutschen Freiwilligen, die wiederum On-Arrival-Bekanntschaften von Malte sind.
Auch die Mitarbeiter des WWF kenne ich noch nicht alle. Während der letzten zwei Wochen habe ich Ela, die deutsch-polnische Kletterin, die mit einem Griechen verheiratet ist, Petros und Alkis aus Alexandroupolis kennengelernt. Je mehr ich mit ihnen unterwegs bin, desto mehr spannende Geschichten höre ich und desto interessanter werden unsere Unterhaltungen.
Viele neue Leute treffe ich auch außerhalb von Dadía: Während eines Wochenendtrips nach Thessaloniki vom zweiten bis zum vierten November habe ich zahlreiche nette Menschen kennengelernt. Bony, Maria, Malte und ich haben relativ spontan entschieden, zum Internationalen Filmfestival in der griechischen Großstadt zu fahren und wurden mit zwei wunderschönen und aufregenden Tagen in einer interessanten Stadt – sehr viel schöner als Athen – belohnt. In Thessaloniki kann man nicht nur Sehenswürdigkeiten wie den weißen Turm, Überbleibsel der mittelalterlichen Stadt, Spuren der Besetzung und Denkmäler der Unabhängigkeit oder des Friedens bestaunen, sondern zu dieser Zeit einen sonnigen Nachmittag am Hafen verbringen, sehr gut essen oder nachts in griechischen Bars zu moderner, zum Teil griechischer, Musik tanzen. Mit einigen anderen Freiwilligen und Anastasia, einer griechischen Biologin, bei der wir gewohnt haben, haben wir diese Bars zwei Nächte lang genossen. Vom Programm des Filmfestivals suchten wir uns eine Ausstellung über Erfahrungen und Eindrücke eines multinationalen Austauschs von Künstlern, einen niederländischen Film und ein Soulkonzert aus – alles hat sehr viel Spaß gemacht!
Viele Ausflüge, Besuche, Exkursionen machen meine Tage erlebnisreich. Richtig zur Ruhe komme ich selten – und im Moment bin ich glücklich damit. Lediglich einen Tag habe ich die letzten Wochen im Büro verbracht. Da Rodoula noch keine Aufgaben für mich hat, außer fünfzig Dokumente mit dem WWF-Stempel zu versehen, was nur zehn Minuten dauert, widme ich mich meinen selbstgestellten Aufgaben: Organisation und Verwaltung rund ums Nest. So habe ich Tabellen entwickelt, die uns die Abrechnung des Essensgelds, die alle zehn Tage fällig ist, die Abrechnung größerer Einkäufe sowie des “Fridge Accounts”, der unsere monatlichen Ausgaben zusammenfasst, vereinfachen und Infoblätter erstellt, unter anderem zum Thema Krankheitsvorbeugung, da aufgrund der nächtlichen Kälte mindestens einer von uns sich zumindest krank fühlt oder naseschneuzend duch die Wohnung läuft. Wir hoffen, dass sich das bessert – seit gestern haben wir zumindest in den Zimmern funktionierende Öfen, der Ofen im Ess- und Wohnzimmer muss noch ausgetauscht werden. Die zahlreichen Dokumente, die ich entworfen habe, machen José schon Sorgen – er hat angekündigt, mit Rodoula zu sprechen. Dass ich mir mit solchen Dingen die Zeit vertriebe, sei “nicht gut für [mich]“. Gleichzeitig hat er schon Anfragen auf Zusammenfassungen von Energie- und Wasserspartipps gestellt. Malte amüsiert sich auch und schlägt vor, ich solle anstelle von Rodoula die Buchführung übernehmen, ich könne das wesentlich besser als sie…
Habe ich morgens etwas Zeit – und das ist oft der Fall, da ich als erstes aufstehe, aber meist auf die anderen warten muss, da wir gemeinsam losmüssen – setze ich mich am Frühstückstisch gerne mit griechischen Vokabeln oder Deklinationen auseinander, was für José unverständlich ist. Ich sei die Erste, die so viel und so früh lerne. Dass ich ihn, der im April hier angekommen ist, noch einhole, wage ich im Gegensatz zu ihm allerdings zu bezweifeln.
Viel Zeit verbringen wir auch mit Kochen. Meist kochen Bony oder ich. Malte trägt von Zeit zu Zeit ein selbtgebackenes Brot bei. Bony kocht wie ich viel Gemüse, hat aber auch französische Crêpes parat. Malte freut sich auch, wenn ich mal etwas “typisch Deutsches” wie Spinat mit Bratkartoffeln oder Brokkoli-Kartoffelgratin koche. Bis auf das Crème fraiche-Häubchen auf der Suppe machen alle die Experimente der deutschen Küche gerne mit. José meinte schon, er würde in diesem Jahr das Kochen noch ganz verlernen und als ich gestern mal wieder in der Küche stand, schüttelte er nur den Kopf und kommentierte lachend: “You can’t stop cooking!” Stimmt wohl. Dafür macht es einfach zu viel Spaß. Zum Glück bin ich nicht allein auf unsere Lidl-Einkäufe angewiesen. Christos, ein Grieche, der zehn Jahre lang in Deutschland gelebt hat, verkauft dienstags und samstags von einem Traktoranhänger Gemüse, das zum Großteil aus Griechenland kommt. Und es ist unglaublich, wie viel hier um diese Zeit noch wächst. Noch mehr Spaß wird das Kochen machen, wenn wir bald aus dem Garten, den Bony, Maria und ich angelegt haben, eigenes Gemüse ernten können!
Die Abende verbringen wir bei Kälte und Dunkelheit gerne damit, Filme anzusehen. Dann quetschen wir uns auf unser schäbiges rosafarbenes Sofa und benutzen meinen Laptop um einen französischen, englischen oder spanischen Film anzusehen, der meist so gut ist, dass wir vergessen, wie improvisiert unser “Fernsehabend” eigentlich ist. Jetzt, da Liz umgezogen ist und eine große, wirklich schön eingerichtete Wohnung hat, werden wir wohl in Zukunft auch viel Zeit hier verbringen. Diese Woche haben wir uns schon einmal zum Pita-Essen und Filmschauen bei ihr getroffen. Die Stunden in der freundlichen, warmen Wohnung haben wir sehr genossen… Unser Nest ist vergleichsweise sehr provisorisch eingerichtet und wir erleben immer neue Abenteuer. Neben der Kälte macht uns im Bad auch Feuchtigkeit zu schaffen. Gewittert es in Dadía, ist das für uns spätestens seit dem 29. Oktober Anlass, zu zittern. In Griechenland sind Blitzableiter auf Häusern nicht üblich, unser Haus ist erhöht und darum war es eine willkommene Adresse für den Blitz, der an diesem Montagmorgen vom Himmel schoss. Wir standen gerade zu dritt in der Küche, ich war dabei, einen Apfel fürs Müsli zuzubereiten, als es plötzlich eine Explosion mit dem Geräusch und dem Druck von zerreißender Luft im Kamin gab , die Küche hell erleuchtet wurde und Ascheregen meinen Kopf und den eben noch roten Apfel bedeckte… Wir werden trotzdem keinen Blitzableiter bekommen. Stattdessen gibt es demnächst Teppiche für die Schlafzimmer. Ich habe übrigens das Zimmer gewechselt: Seit Freitag wohne ich bei Bony und Maria im Zimmer, schlafe über Bony im Stockbett, habe endlich Platz, Bügel aufzuhängen und mein Schlafrhythmus ist dem meiner Zimmergenossinnen eher angepasst als dem von Malte. Jetzt werde ich etwas mehr Zeit mit den zwei Mädels verbringen.
Allgemein habe ich das Gefühl, dass ich mich mit meinen Mitbewohnern jede Woche noch einen Tick besser verstehe. Sie sind hauptsächlich dafür verantwortlich, dass ich mich in unserem “Nest” trotz aller Mängel immer mehr zu Hause fühle.
Das Verhältnis zu den Griechen ist gespalten. Mit den Griechen aus dem Dorf gibt es keine Probleme; sie sind die Freiwilligen seit zehn Jahren gewohnt und tolerieren uns, auch wenn meine Besuche in den Kafenions weiterhin mit neugierigen Blicken quittiert werden. Die WWF-Mitarbeiter sind alle sehr nett und offen, wie auch andere Griechen, die mit Freiwilligen Erfahrung haben. Dennoch ist einiges befremdlich. Da Dadía nahe der türkischen Grenze liegt, gibt es hier eine große Polizeipräsenz. Damit Flüchtlinge nicht über die Grenze kommen, steht an der Abbiegung zu Dadía stets ein Polizeifahrzeug. Wer nachts in Soufli vorbeifährt, wird regelmäßig angehalten, und es werden Fahrzeugpapiere sowie Personalausweise kontrolliert. Als Deutsche ist es manchmal nicht besonders einfach. Vorurteile gibt es leider genug. Für viele unverständlich sind auch mein Verhalten im Alltag: Wie kommt es, dass eine Deutsche kein Bier trinkt? Das ist nicht normal! Leider sind es nicht nur solche Vorurteile oder Bilder von Deutschen, mit denen ich konfrontiert werde. Als wir diese Woche bei der Tsipouroherstellung dabei sein durften und es ein großes Essen für ca. 30 Personen gab, wurde vor allem von den Griechen viel getrunken. Einer verlor irgendwann jegliche Hemmungen und schimpfte in aggressivem Ton über Deutsche und Franzosen, ließ sich von anderen von seinen Hassbotschaften nicht abbringen. Ob er nicht wusste, dass direkt vor ihm eine Deutsche sitzt, ob er dachte, ich könne einfache Worte wie “Deutschland” und “Frankreich” nach einem Monat in Griechenland nicht verstehen, seine Gestik und Mimik deuten oder ob ihm das alles egal war, weiß ich nicht. Ich bin jedoch froh, dass mein Griechisch nicht ausgereicht hat, jede einzelne Beschimpfung zu verstehen. Was ich von seinen franco-germanophoben Kommentaren verstanden habe, hat gereicht.
Abgesehen von solchen besonderen Vorkommnissen bin ich in Dadía jedoch in einem “geschützten” Umfeld und werde von den Bewohnern akzeptiert. Ein morgendliches “Kaliméra” und ein freundliches Lächeln begegnen mir immer, wenn ich auf dem Weg zum Büro bin. Und diese Dinge, diese Kleinigkeiten sind es, die jeden einzelnen Tag meines Aufenthaltes hier bereichern und mich jeden Morgen gerne aufstehen lassen – auch heute am Sonntag. Damit habe ich allerdings einige Dorfbewohner überrascht – sie sind es nicht gewohnt, dass die jungen Freiwilligen am Wochenende so früh aufstehen…
Ich genieße aufregende, erfreuliche Momente – und die großartige Umgebung, der Park, die Menschen und meine Aufgaben machen es mir recht einfach, viele dieser Momente zu erleben.
Ich hoffe, ich konnte euch damit erfreuen, einige dieser Momente mit euch zu teilen und sende viele Grüße aus Griechenland!
Bis bald,
Jasmin