Noch einmal in Riga
Das Europäische Jugendtreffen von Taizé wurde dieses Jahr in Lettland veranstaltet. Vom 28.12.2016 bis zum 01.01.2017 strömten circa 15000 Jugendliche und junge Erwachsene in die Kirchen Rigas. Darunter Pauline und ich.
Dieser Eintrag ist diffus, kurz und irgendwie unzusammenhängend. Er ist eine Momentaufnahme meiner Erfahrung, von der ich noch immer überwältigt bin. Was ich erlebt und gefühlt habe, ist schwer in Worte zu fassen. Trotzdem hier ein Versuch, euch einen Einblick in meine Zeit in Riga zu geben.
Es ist der 31. Dezember 2016, 7:00 Uhr. Unsere Gastmutter weckt uns mit einem freundlichen „Dobra Utra“ (Guten Morgen), verlässt den Raum, um uns ein wenig Privatsphäre zu lassen. Am anderen Ende des Zimmers steht ein zweites Bett, darin liegt unsere Gastschwester mit ihrem Freund. Die dritte Nacht bei der Familie fühlt sich schon gewohnter als anfangs an, das Gefühl des Unbehagens ist fast verschwunden. Winston, der Kater der Familie, springt auf das Kopfkissen, Pauline erschreckt sich, ich merke, wie ich sofort weniger Luft bekomme. Nun eindeutig wach gehe ich durchs Wohnzimmer ins Bad, versuche kurz zu erklären, dass ich gut geschlafen habe, scheitere jedoch bei der Gegenfrage. Wie bildet man nochmal Adverbien im Russischen? Obwohl ich wahrscheinlich unverständlich brabbele, lächelt mich unsere Gastmama freundlich an und versucht mir deutlich zu machen, dass ich duschen könne und unser Frühstück in der Küche stehe. Wie gerne würde ich mehr als „Vielen Dank“ sagen. Sie sitzt noch auf der viel zu kleinen Couch, auf der sie jede Nacht schläft. Auch ohne Gäste.
Nachdem ich die herausgebrochenen Türen der Dusche lautstark hinein- und wieder hinausgehoben habe, entschuldigt sie sich für die Umstände. Für die Reparatur sei kein Geld da. Sie führt uns in die Küche, sagt uns, wir müssten uns ein wenig beeilen und fängt ebenfalls an, sich fertigzumachen. Unser Frühstück, Cornflakes oder Toast mit Marmelade ist jeden Tag dasselbe. Heute gibt es noch gekochte Eier. Nach vier Tagen stellen Pauline und ich fest, dass es das einzige vorhandene Essen ist. Alles was wir essen, wurde nur für uns gekauft.
Die Fahrt mit der Tram zu unserer Gastgemeinde dauert ca. eine halbe Stunde und das Morgengebet beginnt um 8:30 Uhr. Wir beide singen mit dem Chor ein paar Taizé-Lieder, das Thema des Morgens ist „Allow friendship to grow in order to prepare peace“. Bis 12:00 Uhr singen, beten und diskutieren wir mit Jugendlichen aus 13 verschiedenen Nationen darüber. Was bedeutet es für uns, dass Jesus uns alle seine Brüder und Schwestern nennt? Welche Rolle spielt die im Abendgebet genannte christliche Gemeinschaft in meinem Leben? Was bedeutet innerer Frieden für mich? Was kann jede einzelne Person tun, um Menschen, die anders als man selbst sind, zu erreichen und Brücken zu bauen? Noch nie zuvor sprach ich so offen mit anderen über meinen Glauben, doch schnell stellte ich fest, dass mir genau das lange gefehlt hat. Es ist so schön, abends alleine mit Pauline zu beten, tagsüber diese Dinge in Gruppen zu besprechen und vor allen Dingen bei den Mittags- und Abendgebeten mit 15.000 Menschen zu beten und zu singen.
Wir essen gegenüber von der Arena Riga, alle zusammen auf dem Boden einer Turnhalle. Das Essen wird von ehrenamtlichen HelferInnen verteilt, alles Teilnehmer des Programmes. Pauline und ich gehören „arbeitstechnisch“ zum Chor, was eine unglaubliche Erfahrung ist. Die Lieder sind harmonisch, gleichen einem Mantra. Es wird ein Satz immer wiederholt. Es geht darum, zu verstehen, was gesungen wird. Aus diesem Grund stehen auch unter jedem Liedtext einige Übersetzungen. Wir singen auf Lettisch, Spanisch, Italienisch, usw…
An diesem Tag meditiert Bruder Alois beim Mittagsgebet über Geschwisterlichkeit, Nächstenliebe und Barmherzigkeit: „Jesus sagte: „Wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.“ (Matthäus 12,50) Mit diesen Worten beschreibt Jesus eine beispiellose Nähe zwischen Menschen, die keine familiäre Bande eint. Es stimmt, dass wir uns durch das Gebet und den Dienst an den Schwächsten den Menschen, die wir sonst kaum kennen, sehr nahe fühlen können. […]. Wenn wir versuchen zu begreifen, dass Christus sich darüber freut, wenn wir gut zusammenarbeiten, dann verstehen wir auch, dass der Heilige Geist zum Herzen jedes Menschen spricht. In den ersten Jahrhunderten der Kirche haben die christlichen Denker von „Samenkörnern des Wortes“ gesprochen, die auch andere Kulturen und Religionen befruchten.“
Das Vater Unser wird gesprochen, jeder betet in seiner eigenen Sprache. Wir singen. Die Arena Riga ist mit circa 7000 Menschen gefüllt, nach den Liedern ist es absolut still. All diese Menschen kamen genau deshalb nach Riga. Die Atmosphäre ist mitreißend, sehr spirituell und einfach schön. Ich hatte hitzige Diskussionen erwartet, denn das ganze Treffen ist auch politisch angehaucht. So viele verschiedene Nationalitäten, so viele Meinungen. Und die gibt es auch, aber unübersehbar ist die eine gemeinsame Grundlage des Glaubens. Ein Gefühl, dass ich zum ersten Mal so intensiv erlebe. Diese Menschen zeigen eine Einheit, beweisen, dass es wichtigeres gibt als Diskussionen über Unterschiede. 15000 Jugendliche und junge Erwachsene, etliche Nationalitäten, Orthodoxe, Katholiken, Protestanten, etc. Und alle sitzen gemeinsam in der Arena Riga auf dem Boden und denken über die Worte Bruder Alois‘ nach.
Nachmittags gibt es ein Ländertreffen, bei dem konkret über die Probleme und Möglichkeiten in Deutschland gesprochen wird. Einer der deutschsprachigen Taizé-Brüder leitet die Diskussion und es ist spannend, verschiedene Blickwinkel zu betrachten. Auch heikle Themen wie die Flüchtlingskrise werden nicht ausgeklammert, sondern im Gegenteil, in den Mittelpunkt der Gebete und Diskussionen gestellt. Ein Workshop „Europe today: what can we do for the unity of the continent? Sharing with people from several different countries working to build Europe“ bringt die Argumente noch einmal zusammen und für mich persönliche ist es auch bildungstechnisch eine ungemeine Bereicherung.
Nach dem Abendessen folgt das Abendgebet, insgesamt wird also jeden Tag mindestens 6 Stunden gebetet. Auch dieses besteht aus Gesang, Gebet, Fürbitten, Meditationen und dem Gebet am Kreuz.
Ab 23 Uhr beginnt das „Fest der Nationen“ als Silvesterprogramm in den Gastgemeinden. Jede Nation bereitet etwas vor, es wird gesungen, getanzt und viel improvisiert ;) Kurz vor Mitternacht gehen wir raus, jemand stimmt ein Taizé-Lied an und so singen wir uns mit 14 Nationalitäten, in einem riesigen Kreis ins neue Jahr. In jeder Sprache wird jedem ein Frohes Neues Jahr gewünscht und das ganz nüchtern ;D Und ich könnte ehrlich gesagt nicht glücklicher darüber sein.
Um circa vier Uhr morgens, nachdem dem Aufräumen, fahren wir mit unserer Gastmutter nach Hause. Unser Tag dort endet spät, wir beten noch.
Es war eindeutig eines meiner schönsten Silvester und ich bin unglaublich froh darüber, es jede Sekunde genossen und klar in Erinnerung zu haben.
Ein Tag des „Pilgerweg des Vertrauens in Riga“ ging vorüber.
Ich werde nie vergessen, wie unsere Gastmutter am letzten Tag für uns kochte, uns etwas häkelte, um uns eine Erinnerung mitgeben zu können und letzten Endes sogar unsere mitgebrachten Süßigkeiten wieder zurückgeben wollte. Sie und ihre Tochter haben uns als ihre ersten Gäste bei sich übernachten lassen und ein erstaunliches Maß an Gastfreundschaft gezeigt. Obwohl sie selber nichts hatten, haben sie uns so viel gegeben und bewiesen, dass Bruder Alois Recht behält:
„Die Gastfreundschaft der Familien ist ein Licht, das uns auf unserem Weg begleitet. Nehmen wir dieses Licht morgen mit nach Hause! Es ist das Licht Christi. Es wird jeden Tag in unserem Leben scheinen und uns immer wieder Hoffnung schenken. Mit diesem Licht werden wir dunkle Stunde überstehen, die uns den Mut nehmen könnten. Dieses Licht gibt uns die Kraft, der Angst zu widerstehen angesichts der instabilen Lage und der Umbrüche in der Welt. […]
Wenn wir auf Menschen, die ärmer als wir sind, ganz einfach zugehen, dann stellen wir fest, dass sie uns beschenken. Sie helfen uns, unsere eigene Schwäche und Verletzlichkeit anzunehmen; von ihnen lernen wir, welch unschätzbaren Wert die Güte des Menschen hat“
Danke Pauline, dass du diesen Weg mit mir gegangen bist. Du weißt, wie viel mir das bedeutet.
Amina
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