Neuigkeiten aus Estland
Von schönen Versprechungen hat dielene erst einmal genug gehört. Statt funktionierendem Computer und wärmendem Ofen gibt es lieb gemeinte Hilfsangebote, bei denen es aber leider an der Umsetzung hapert. Der Herbst in Estland ist dagegen eine wahre Wonne.
Ja, ich hab mal wieder den Weg in die Bücherei gefunden...
Schöne Versprechungen
Eigentlich sollten wir ja schon seit mindestens zwei Wochen einen Computer mit Internetanschluss bei uns zu Hause haben. Den Internetanschluss haben wir seit einer Woche auch, sogar ein Monitor ist da, nur der Rechner fehlt!
Fehlen ist eigentlich das falsche Wort; er steht schon die ganze Zeit in Iljas Wohnung, der es irgendwie nicht fertig bringt, ihn uns zu bringen. Genauso ist es auch mit dem kleinen Heizöfelchen, das er uns schon bei unserer Ankunft versprochen hat. Und der Sprachkurs hat natürlich auch noch nicht begonnen...
Ilja ist wirklich super lieb und nett, aber leider ist er auch ein typischer Vertreter der Sorte von Menschen, die den ganzen Tag davon erzählen, was sie alles machen werden, die voller guter Ideen stecken und sich viel vornehmen. Was sie am Ende allerdings alles nicht einhalten können, weil der Tag eben doch nur 24 Stunden hat. Das kann ziemlich nervig sein! Aber mittlerweile weiß ich wenigstens, dass ich mich nicht so sehr auf Ilja verlassen sollte!
Ansonsten geht es mir ganz gut.
Goldener Herbst
Wir haben hier schönstes Herbstwetter. Seltsamerweise regnet es kaum. Wenn, dann immer nur freitags, und den Rest der Woche haben wir blauen Himmel und strahlenden Sonnenschein. Bin mal gespannt, ob das weiterhin so bleibt. Ich habe, glaube ich, noch nie einen so sonnigen Herbst erlebt. Von grauem Herbstmief ist hier bis jetzt nichts zu sehen...
In meinem Teil der Stadt ist jede Strasse eine Allee und die Bäume sind zurzeit einfach wunderschön.
Allerdings ist es mittlerweile schon recht kühl und das Problem ist, dass die Heizung hier zentral für die ganze Stadt geregelt wird. Sie wird erst ab einer bestimmten Temperatur eingeschaltet, die anscheinend noch nicht erreicht ist. Unsere Fenster und Bettdecken sind auch nicht gerade die besten. Aber wenn man sich ganz warm einpackt und viel warmen Tee trinkt, geht es im Moment noch. Das wird sich allerdings bald ändern, denn ab nächsten Monat ist mit Schnee zu rechnen!
Bücher-Zuhause
Die Bücherei ist hier mittlerweile schon fast mein zweites Zuhause geworden. Letzte Woche war ich fast jeden Tag hier, um Emails abzurufen und zu schreiben, und mich natürlich mit neuem Lesestoff einzudecken. Es gibt nämlich ein paar englische Bücher und sogar deutsche. Aus der Kinderbücherei habe ich mir ein paar Bücher zum Russisch lernen ausgeliehen und die Bücher, die eigentlich für die russischen Kinder zum Englisch lernen sind, sind für meine Zwecke perfekt geeignet! Das eine Buch ist voller Bildergeschichten und Märchen. Winnieh Puh, The little Red Riding Hood (alias Rotkäppchen) und Dornröschen habe ich schon durch! Ansonsten macht mein Russisch allerdings nur sehr langsam Fortschritte; ich weiß zwar viele einzelne Worte, kann aber keine Sätze bilden.
Die Leute, die in der Bücherei arbeiten, sind alle supernett, und sie haben mich sogar mit auf ihren "Betriebsausflug" genommen! Da bin ich dann also mit 10 Frauen im Alter von 40-60 in einem Kleinbus an den Peipsi-See gefahren (das ist der grösste See Estlands und ich glaube der fünftgrösste in Europa; er ist ganz im Osten von Estland), war in drei verschiedenen Museen und hab endlich mal so richtig schön auf russische Art, mit Samowar und allem Drum und Dran, Tee getrunken! War ein echt schöner Tag. Leider hat es die ganze Zeit geregnet (es war Freitag!).
Peggy – die andere Hälfte der WG
Peggy und ich verstehen uns ganz gut! Ich glaube, wir sind zwei ziemlich unterschiedliche Charaktere, aber vielleicht macht das Ganze hier umso interessanter. Mittlerweile haben wir uns jedenfalls aneinander gewöhnt und ich bin froh, dass ich nicht alleine hier bin. Es ist so viel leichter!
Wir kommunizieren untereinander in einem lustigen Mischmasch aus Französisch und Englisch, dabei spricht sie ungefähr so schlecht Englisch wie ich Französisch. Mir sind zu Anfang die einfachsten Wörter nicht mehr eingefallen, aber langsam kommt alles wieder... gespickt mit ein paar Worten Russisch! Ich kann Euch sagen, da kommt man manchmal ganz schön durcheinander!
Peggy ist hier eine richtige Attraktion. Touristen sind hier sowieso schon ein äußerst seltener Anblick und eine waschechte Französin hat Sillamäe möglicherweise noch nie gesehen! Deutsch ist da nicht ganz so exotisch.
Hüttenparty
Letzte Woche stand deswegen plötzlich Natalia im Waisenhaus. Sie lernt in der Schule Französisch und wollte unbedingt mal mit einer Französin sprechen. Gestern hat sie uns dann noch mal in unserer Wohnung besucht mit ihrem Bruder und ein paar Freunden.
Und ganz spontan haben sie uns dann noch auf eine kleine Party abends eingeladen. Diese Party fand in einer kleinen, ziemlich fertigen Hütte in der Sommerhaussiedlung statt (hier hat fast jede Familie ein kleines Hüttchen mit einem Garten außerhalb der Stadt, wo sie eigenes Gemüse und Obst anbauen), zu der wir erst mal ne dreiviertel Stunde auf kleinen Pfaden durch Wald und Wiesen gewandert sind. War wirklich schön in der Abendsonne... Die Hütte war wirklich nicht besonders ansehnlich und wird wohl ausschließlich für Feten genutzt, aber sie hatte einen offenen Kamin und so war es dann doch ganz gemütlich!
Zurück wurden wir sogar gefahren, da gemunkelt wird, dass es im Wald Wölfe und Bären gibt und ein Zusammentreffen mit diesen wollten uns unsere Gastgeber ersparen. (Obwohl keiner von ihnen jemals einen lebenden Bären oder Wolf mit eigenen Augen gesehen hat. Ich hab übrigens mittlerweile welche gesehen; allerdings nur ausgestopft im Museum.)
Stadtgeschichten
Letzte Woche sind Peggy und ich noch einmal nach Narva gefahren, um zu schauen, was es dort für Läden gibt. In Sillamäe gebt es nämlich nur sehr wenige Läden und früher oder später werden wir uns noch mit ein paar warmen Winterklamotten eindecken müssen. Und Narva ist immerhin eine Uni-Stadt mit etwa 70000 Einwohnern, da gibt es schon deutlich mehr...
Was ich noch zu meiner Stadt Sillamäe schreiben wollte: Nach dem Krieg wurde hier von russischen Kriegsgefangenen eine Fabrik errichtet, um den Ölschiefer zu verwerten, der hier in der Gegend vorkommt und zu jener Zeit ein wichtiger Energieträger war. Heute zum Glück nicht mehr, denn das geht mit starker Luftverschmutzung einher. Als Russland dann Uran für die Atombomben gebraucht hat, wurde die Fabrik darauf umgestellt, und man hat radioaktives Material aus dem Ölschiefer gewonnen. Aus ganz Russland kamen Leute hier her, um in der Fabrik zu arbeiten. Die Wohnhäuser wurden von St. Petersburger Architekten geplant und die großen Wohnblocks sind im neoklassizistischen Stil erbaut (mich erinnern sie ja ein bisschen an die Bilder der Häuser von Rom in den Asterix-Heftchen).
Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion war die Stadt geheim; sie war auf keiner Karte eingezeichnet, war abgeschottet und außerhalb der Stadt wusste keiner, was darin vor sich ging.
Dann hat sich natürlich alles schlagartig geändert. Heute ist die Fabrik wieder umgestellt und produziert irgendwelche chemische Substanzen; das radioaktive Material, von dem im Endeffekt nur ein kleiner teil für Atombomben verwendet wurde, wurde im Meer unter Beton begraben und heute befindet sich an dieser Stelle der Hafen.
So, jetzt muss ich leider Schluss machen; gleich bekommen wir Besuch in unsere Wohnung. Dafür hab ich gestern sogar versucht, einen Kuchen zu backen, was allerdings nicht ganz einfach ist ohne Waage und ein anständiges Backblech. Schon das Einkaufen von Lebensmitteln ist ziemlich kompliziert, weil in den Läden alles auf Estnisch ist...
Also, bis zum nächsten Mal.