Folk Festival Saison
In Estland finden seit Mittsommer fast jedes Wochenende größere und kleinere Folk Festivals statt, bei denen Rock und Pop Bands auftreten und in Trachten Volkstänze getanzt werden – manchmal auch gleichzeitig.
Volkstänze und Volksmusik sind in Estland bei allen Generationen sehr beliebt und wichtiger Teil der kulturellen Identität. Tanzgruppen und Chöre gibt es für jedes Alter und viele üben das ganze Jahr, um im Sommer auf Volkstanz- und Volkslieder-Festivals auftreten zu dürfen. Dabei unterscheiden sich die Tänze, Lieder, Trachten und Traditionen je nach Region. Zu den estnischen Trachten gehört zum Beispiel ein bunt gestreifter Rock, dessen Farben je nach Gebiet variieren. Zu besonderen Anlässen sieht man häufig Esten in ihre Trachten und in manchen Gegenden Estlands werden sie sogar täglich getragen.
Im Süd-Osten Estlands befindet sich Setomaa, wo die Seto Kultur und Sprache noch besonders lebendig ist. Während des Seto Folk Festivals kommen dort alle Generationen zusammen und verbringen die langen, weißen Nächte unter freiem Himmel. Auf der Bühne stehen estnische Folk-Rock und -Pop bands, wie Naised Köögis, Zetod und Curly Strings, die im ganzen Land sehr beliebt und täglich im Radio zu hören sind. Am besten hat mir gefallen, dass zu einer Band drei Seto-Frauen in ihren Trachten auf die Bühne gekommen sind und in der traditionellen Sprache gesungen haben. Dabei war eine von ihnen schon hochbetagt und hatte dennoch sehr viel Spaß auf der Bühne gehabt, aus vollem Hals mitgesungen und getanzt. Zwischen den Konzerten finden sich auf den Festivalwiesen kleine Gruppen von Sängern zusammen, die gemeinsam in der Seto Sprache singen. Dabei gibt die Älteste oder der Älteste immer die Strophen an und die jüngeren versuchen so gut wie möglich zu folgen. Diese Nähe zwischen den Generationen und die Selbstverständlichkeit, mit der Wissen und Traditionen weitergegeben werden und erhalten bleiben, finde ich sehr beeindruckend.
Die Liebe zu Volkstänzen und Liedern verbindet jedoch nicht nur verschiedene Generationen, sondern auch die drei baltischen Nachbarländer. Das Gaudeamus Festival findet alle vier Jahre statt und bringt Studentenchöre und -tanzgruppen aus Estland, Lettland und Litauen zusammen. Drei Tage lang haben über tausend Studenten am Mittsommer in Tartu gemeinsam getanzt und gesungen. Die traditionellen Lieder, Tänze und Trachten unterscheiden sich deutlich und umso spannender war es, die Vorstellungen der Studenten aller drei Länder zu sehen und zu vergleichen. Die estnischen Tanzgruppen haben das Märchen eines Mittsommernachttraums aufgeführt, das von einer Liebesgeschichte und mystischen Ereignissen handelt, die während der Mittsommernacht geschehen. Die Vorstellung ging weit über das hinaus, was man sich üblicherweise unter Volkstanz vorstellt, und hat moderne Elemente wunderschön mit den traditionellen Tänzen verbunden. Die Chöre sind am nächsten Tag aufgetreten und haben gegen den Regen angesungen. Da mir jeder Este, mit den ich vor Mittsommer gesprochen habe, vorausgesagt hat, dass es an Mittsommer immer schlechtes Wetter gibt, waren wir gut vorbereitet und so ein Teil des schönen Bildes von den vielen bunten Regenschirmen im großem Stadium der Liederfeste.
Die lange Tradition der Liederfeste in Estland hat ihren Ursprung in einem steigenden Nationalbewusstsein im 19 Jahrhundert. Während Estland unter sowjetischer Herrschaft stand, wurden die Liederfeste zu einem Symbol des Widerstands, obwohl die Regierung der Sowjetunion versucht hat, sie zu ihren Propagandazwecken zu gebrauchen. Mit der friedlichen “Singing Revolution” während des Liederfestes 1990 wurde Estland unabhängig und das gemeinsame Singen zu einem sehr wichtigem politischem Ereignis in der estnischen Geschichte. Nahezu alle Esten, die ich kennengelernt habe, waren schon einmal als Teil eines Chores oder als Zuschauer bei einem Liederfest. Das Gefühl, Teil des Festes zu sein und mit tausenden von Esten gemeinsam zu singen, wurde mir als sehr bewegend, unvergesslich und überwältigend beschrieben.
Die Kultur von Folkmusik und -tanz findet jedoch nicht nur im großen Stil auf Festivals statt, sondern vor allem in kleinen Dörfern und im privatem Rahmen. Fast in jedem Ort gibt es Volkstanzgruppen, denen man beitreten kann und mit der man das Jahr lang übt und dann im Sommer mit anderen Gruppen gemeinsam die Tänze aufführt. Dabei ist jeder willkommen, der Lust hat mitzutanzen. Alter oder Können spielen keine große Rolle. Auch die estnischen Folk Rock und Pop Bands treten nicht nur auf großen Festivalbühnen auf. Im Gegenteil. Sie spielen in den noch so kleinen Dörfern und Plakate für die nächsten Konzerte hängen auf Bushaltestellen mitten im Nirgendwo. Zum Beispiel werden in einem Apfelbaumgarten, mitten zwischen Rapsfeldern und Wald, den ganzen Sommer lang Konzerte von estnischen Bands gegeben. Vor den Konzerten tritt dort eine Geschichtenerzählerin auf, die estnische Volksmärchen erzählt. Auch wenn mein Estnisch noch nicht ausreicht, um sie zu verstehen, macht es Freude, Geschichten auf einer fremden Sprache zu lauschen und zu vergleichen, wie ein alter Mann, ein neugieriges Mädchen oder ein listiger Fuchs auf Estnisch klingt. Unter den Apfelbäumen und Lichterketten einer estnischen Geschichtenerzählerin und einer Band zuzuhören, gehört zu den schönsten Erlebnissen diesen Sommer.
Als Zuschauer bei den Konzerten, den Folk Festivals und den Liederfesten dabei zu sein, macht viel Spaß, aber noch lieber möchte man aufspringen, mittanzen und mitsingen! Ich kann die Esten nur dafür bewundern, wie sehr sie ihre Traditionen pflegen, sodass sie bis heute noch ein wichtiger Teil der Identität sind und von allen Generationen geliebt und gepflegt werden.
Quellen: http://gaudeamus.ee
http://estonianworld.com