Das Türkei/EU-Abkommen
Ein neuer Deal in der Flüchtlingskrise wurde beschlossen, mit der Türkei als Europäischer Türsteher. - Doch was bedeutet das realpolitisch? Und ist die Türkei ein verlässlicher Handelspartner?
Mein Blick schweift aus dem Fenster, wo sich grauen Wolken über dem Meer ballen – Ein Sturm zieht auf. Die Stimmung ist gedrückt, denn dies bedeutet, dass die nächsten Tage wohl keine Fähre zur griechischen Insel Lesbos fahren wird – Obwohl sich einige kleine Boote voller verzweifelter Menschen sicher nicht von der Gefahr abhalten lassen. Meine Reise scheint so vorzeitig im türkischen Ayvalık zu enden, obwohl ich doch eigentlich in einem griechischen Flüchtlingscamp arbeiten wollte.
Dieses hat sich jedoch auch in den letzten Tagen in ein Detonationscamp verwandelt, in dem die Leute keine Hilfe erwarten können, sondern stattdessen festgehalten und unterversorgt werden. Mich erreichen immer mehr Nachrichten von der Insel, dass Hilfsorganisationen und Freiwillige sich weigern, weiterhin dort zu agieren und dieses menschenverachtende System noch zu unterstützen. Die Situation der Flüchtlinge im Nahen Osten hat sich tatsächlich in den letzten Wochen drastisch geändert, durch ein neues Abkommen zwischen der Türkei und der Europäischen Union – Aber was genau bedeutet dieser Deal für die Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa?
• Rückführung
Der Doom-Day steht: Alle Flüchtling, die nach dem 20.April 2016 illegal nach Griechenland einreisen, werden umgehend wieder in die Türkei abgeschoben werden. Im Tausch dafür soll ein Flüchtling aus der Türkei in einem europäischen Land aufgenommen werden – So wird die Zahl der Flüchling in der Türkei durch den Deal nicht beeinflusst.
• Rechtsstaatlichkeit
Das ist die Grundvoraussetzung für diese Abmachung: Die Türkei gilt von nun an offiziell als sicheres Herkunftsland, weswegen es weder gegen moralische noch gesetzliche Vorstellungen verstoßen sollte, Flüchtlinge in der Türkei leben zu lassen.
• Verteilung
Die neu ankommenden Flüchtlinge sollen gerecht auf alle Mitglieder der EU aufgeteilt werden, um Versorgungsengpässe zu vermeiden.
Damit würde die Türkei eine wichtige Rolle in der Lösung der Flüchtlingskrise einnehmen und viel Verantwortung übernehmen, was auch mit einigen Vorteilen für die türkische Nation einhergehen würde: Beispielsweise winken der Türkei neue Verhandlungen über einen potentiellen Beitritt, aber vor allem locken Visa-Erleichterungen. Auch die Kosten soll die EU übernehmen und stellen so für die Versorgung der Syrer drei Milliarden Euro zur Verfügung.
Griechenland soll in seiner schwierigen Situation als sozialer Brennpunkt auf der Flüchtlingsroute mit Fachkräften und Sicherheitspersonal unterstützt werden.
Das steht auf dem Papier. Doch meine Realität sieht anders aus: In der türkischen Hafenstadt Izmir arbeite ich mit syrischen Flüchtlingen, die warten – Auf das nächste Schlepperboot oder, wenn das Geld ausgegangen ist, darauf, dass der Krieg endet. Insofern betrifft mich dieses neue Abkommen auch, denn ich erlebe die Transition, die Flucht wird schwieriger.
International wird dieses neu in Kraft getretene Abkommen kritisiert, welches das florierende Schlepper-Geschäft unterbinden soll und doch Menschenhandel nur neu definiert: Denn Flüchtlinge abzuzählen und willkürlich Visa-Anträge zu genehmigen untergräbt auch die moralische Glaubwürdigkeit der EU. Auch die Türkei als Handelspartner/Türsteher der Europäischen Gemeinschaft ist nicht unumstritten: Die Aussagen und Politik Erdogans lassen keinen klaren Kurs erkennen und geben auch keine Motivation preis.
Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International observieren illegale Deportationen von Flüchtlingen nach Syrien, illegal gegen internationales und türkisches Recht. Auch die Lebenssituation und Notversorgung von Flüchtlingen ist in der Türkei nicht gesichert – Es gibt keine offiziellen Anlaufstellen, keine zentralisierte Hilfe, nur die Camps, die hoffnungslos überfüllt sind.
Doch die politische Situation entwickelt sich rasend schnell: Während ich noch im März nach Lesbos reisen wollte, trat das neue Abkommen in Kraft, welches nun schon wieder obsolet scheint: Nach dem (erzwungen?) Rücktritt des türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu distanziert sich Erdogan stark von der europäischen Annäherung, der ganze Deal scheint zu platzen. Dieser Rechtsruck der türkischen Politik bedeutet nur ein weiteres Erschwernis in einer gemeinschaftlichen Lösung der Flüchtlingskrise.
Und zwischen dieser großen Politik, dem Interessenkampf und Machtspielchen stehen Menschen. Menschen, die hinter sich ihre zerstörte Heimat und Geschichte lassen und mit ein wenig Hoffnung im Gepäck in die Zukunft zu flüchten. Einer meiner neugewonnenen Freunde in Izmir, Hassan aus Aleppo, wird weiterhin versuchen, mit Schleppern nach Griechenland zu gelangen. Denn wenn man dem Krieg ins Auge gesehen hat, fürchtet man auch keine Grenzpolizei mehr.
Weitere Artikel zum Thema:
https://www.amnesty.org/en/press-releases/2016/04/turkey-illegal-mass-returns-of-syrian-refugees-expose-fatal-flaws-in-eu-turkey-deal/
http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-03/eu-gipfel-tuerkei-abkommen-fluechtlinge-angela-merkel
http://www.zeit.de/politik/2016-04/fluechtlinge-tuerkei-eu
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