Brexit auf Litauisch
Litauen ist ein kleines Land im Nordosten Europas. Wie kommt es, dass der Austritt Großbritanniens aus der EU die Zukunft des Landes stark verändern könnte? Die Antwort ist einfach: Migration.
Als Vytautas Jokubaitis am Morgen nach dem Referendum aufwacht und auf Facebook das Ergebnis sieht, bekommt er einen Schreck. Dieses Referendum könnte seinen Zukunftsplan verhindern. Im September will der 22-jährige Litauer in Leicester in England studieren, ein Masterprogramm für Englisch auf Lehramt. Für das Studium hat er schon einen Kredit aufgenommen – 10 000 Pfund um die Studiengebühren zu zahlen. Später am Nachmittag erhält er eine Mail, in dem die Universität ihm versichert für die zwei Jahre, die er dort studieren werde sei alles in Ordnung. Seine Zukunftspläne sind fürs Erste gesichert.
Was aber passiert mit den restlichen geschätzt 144 000 Litauern in Großbritannien? Die Zahl ist riesig, wenn man bedenkt, dass Litauen selbst nicht mal mehr 3 Millionen Einwohner hat. Derzeit wohnen 619 000 Litauer im Ausland, jeder fünfte also im Vereinigten Königreich. Viele Litauer arbeiten auswärts, haben sich eine Existenz aufgebaut und ihre Familien sind dort gut verankert. Es ist völlig normal, in Litauen zumindest, ein Familienmitglied zu haben, das zurzeit in Großbritannien lebt. Die litauische Community dort ist groß, insbesondere im Osten Englands und im Osten Londons. Litauische Supermärkte, Folkloregruppen, ja sogar ein ausschließlich litauisches Basketballteam lässt sich finden. Kommt die berühmte litauische Gruppe SEL nach London, dann kann man beinahe mit einem ausverkauften Stadion rechnen.
Viele Litauer arbeiten im Vereinigten Königreich als Schichtarbeiter in Fabriken, Obstfarmen und ähnlichen Betrieben. Gerade auch für Sommerjobs gehen deshalb viele Studenten nach Großbritannien. Es gibt immer Verwandtschaft, die einem hilft einen Job oder eine Unterkunft zu organisieren. Litauen hat einen Mindestlohn von 300-350 Euro im Monat. Verglichen mit den gestiegenen Lebenshaltungskosten keine gute Kombination. Qualifizierte litauische Arbeitskräfte findet man aber fast in jedem Arbeitsumfeld in Großbritannien, immerhin studieren viele dort und bleiben dann gleich.
Verschärfte Einreise- und Visabedingungen könnten die Situation der Litauer drastisch verändern. Zurück nach Litauen zu kommen ist für viele im Moment undenkbar. Denn mit der Lebensqualität in vielen anderen europäischen Ländern kann Litauen nicht mithalten. Vytautas aber will anfangen in Litauen zu unterrichten, früher oder später. Seinen Studienkredit muss er zurückzahlen, sobald er ein jährliches Einkommen über 21000 Pfund (25 400 Euro) hat. Damit rechnet er in Litauen aber nicht. Drei Tage später bekommt Vytautas noch einmal einen Anruf von der Uni. Wegen vielen panischen internationalen Studenten rufen sie jeden persönlich an, um Fragen zu beantworten. Alles ist gut, fürs Erste.